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Putin hat die Geschichte politisch instrumentalisiert. Nun sollen Lehrer die Erinnerungspolitik im Unterricht verankern.
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Moskau. Die patriotische Inszenierung des Zweiten Weltkrieges ist zu einem wichtigen Element der russischen Politik geworden. Traditionell wird das Ende des Zweiten Weltkrieges als "Tag des Sieges" im Mai im ganzen Land mit großem Pomp gefeiert. Zuletzt wurde auch der Militärpark "Patriot" vom russischen Verteidigungsministerium nahe Moskau eröffnet. Dort wird die Erstürmung des Deutschen Reichstages nachgestellt. Diese Erinnerungspolitik macht auch nicht vor den Schulen halt. In diesem Schuljahr wurden neue Schulbücher für den Geschichtsunterricht eingeführt. "Ausgewogener" als bisher sollte das neue Lehrmaterial sein, wie die Ministerin für Bildung und Wissenschaft, Natalja Wasiljewa, versicherte. Pädagogen kritisieren, dass genau das Gegenteil eingetreten ist. "Die Bücher sind oberflächlich, vor allem, was die Ereignisse des 20. Jahrhunderts betrifft", sagt Leonid Kazwa. Der 59-jährige Lehrer unterrichtet Geschichte an einem Moskauer Gymnasium. So würden vor allem die dunklen Kapitel der sowjetischen Periode, wie die Stalin-Repressionen, vernachlässigt oder gar nur gestreift.
Nur drei Geschichtsbücher
Mit seiner Kritik ist Kazwa nicht allein. Einseitig wird insbesondere mit den Ereignissen rund um den Zweiten Weltkrieg umgegangen, sagt die Historikerin Natalja Potapowa von der Europäischen Universität in St. Petersburg. "Der Krieg wird ausschließlich im Kontext des Sieges dargestellt", so Potapowa, die russische Schulbücher seit der sowjetischen Periode bis heute analysiert hat. Statt das Leiden des Krieges darzustellen, werde er abstrahiert und pathetisch überhöht. "Unsere Soldaten sterben und töten nicht, sondern vollbringen Heldentaten." Das würde sich genau in das Narrativ des Kreml einfügen, das sich in der siegreichen sowjetischen Tradition sieht und das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg zunehmend militarisiert.
Einem besonders brisantem Punkt - dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts zur Aufteilung Osteuropas im Jahr 1939 - wird auch nur wenig Platz eingeräumt. Weiters sei in keinem der neuen Schulbücher von einer "Annexion" des Baltikums im Zweiten Weltkrieg, sondern von einer freiwilligen Angliederung oder historischen Notwendigkeit die Rede. "Wir haben es hier mit Geschichtsfälschung zu tun", sagt Kozwa.
Das Bildungsministerium hat zudem die Zahl der für den Geschichtsunterricht zugelassenen Bücher auf drei reduziert. Während die Regierung von einer notwendigen "Vereinheitlichung" spricht, warnen Kritiker vor einer "Gleichschaltung". Vor allem die Geschichtsbücher des Verlags "Prosweschenie" (deutsch: Aufklärung) wird von Pädagogen als "ideologisiert" kritisiert. Der Verlag war zu Sowjetzeiten der einzige Verlag für Lehrbücher, im Jahr 2013 wurde der Verlag vom Putin-nahen Oligarchen Arkadi Rotenberg übernommen.
In der Kritik stand zuletzt auch die neue Bildungsministerin Olga Wasiljewa. Die Historikerin, eine Expertin für die Geschichte der Russisch-Orthodoxen Kirche, ist seit ihrer Amtseinführung im August 2016 vor allem mit ihren lobenden Worten zu Stalin aufgefallen. Auf einem Geschichtsforum auf der annektierten Krim hatte Wasiljewa Stalin als Bewahrer des russischen Patriotismus und für seine "Rehabilitation der russischen Geschichte", gewürdigt. Die russische Zeitung "Kommersant" nannte Wasiljewa daraufhin eine "Propagandistin der Idee des Konservatismus und des Patriotismus". Zudem will Wasiljewa Geschichte neben Russisch und Mathematik ab 2020 zum dritten Pflichtfach bei den Abschlussprüfungen machen. Es könne nicht sein, dass "ein Schüler, der eine 11-jährige Ausbildung hinter sich hat, nichts über seine Geschichte weiß", so Wasiljewa.
"Der Staat hat immer recht"
Welche "Geschichte" das genau sein soll, ist Gegenstand von Diskussionen. Von einer regelrechten "Obsession für das Vergangene" schreibt die russische Publizistin Maria Stepanowa. Dabei ginge es aber dem Kreml nie um "die Wahrheit, sondern immer darum, was man dem Volk gerade verordnen will". So wird auch in den Lehrbüchern die Rolle des Staates - egal, ob in der Sowjetunion oder im heutigen Russland - nicht kritisch hinterfragt. "Der Staat hat immer recht", analysiert die Historikerin Potapowa. Die Botschaft: In gesellschaftlichen Umbruchs- und Krisenzeiten - sei es durch Krieg, Revolution oder Mangelwirtschaft - solle man sich mit der Staatsmacht konsolidieren. Dass dabei jeglicher kritische Diskurs über Macht und Demokratie auf der Strecke bleibt, kritisiert Potapowa. "Wollen wir etwa lauter Konformisten ausbilden?"
Was nicht in das offizielle Gedenken passt, gerät hingegen zunehmend Druck. Seit 1999 wird von der Menschenrechtsorganisation "Memorial" ein jährlicher Geschichtswettbewerb organisiert. Schüler werden dabei ermuntert, ihre Familiengeschichte zu recherchieren und in Essays abzufassen. Über die Jahre ist das Projekt zu einem der größten Geschichtswettbewerbe in Russland geworden, mit jährlich bis zu 2000 Einsendungen.
Doch zuletzt wurde der Wettbewerb im staatsnahen Fernsehen als "extremistisch" eingestuft und von den Behörden schikaniert. 2016 wurde die Organisation "Memorial", die sich vor allem für die Aufklärung der Sowjet-Repressionen starkmacht, auf die Liste der "ausländischen Agenten" gesetzt. Laut Memorial-Mitarbeiterin Irina Scherbakowa sind die Schikanen der jüngste Höhepunkt eines Prozesses, der bereits 2013 angestoßen wurde - als Präsident Wladimir Putin angekündigt hatte, ein "einheitliches Geschichtsbild" zu schaffen.
"Wir dürfen die Jugend nicht verschlafen", schrieb zuletzt Kulturminister Wladimir Medinskij in einem Manifest. "Wir müssen den Staat und die Gesellschaft auf der Grundlage jener Werte konsolidieren, die uns von der Geschichte eingeimpft worden sind. Wir brauchen einen patriotischen Trend im gesellschaftlichen Bewusstsein. Wir brauchen ein patriotisches Internet, ein patriotisches Radio und Fernsehen. Wir müssen den Kurs des Präsidenten unterstützen und einen ideologischen Gegenangriff starten an der ganzen Front - in diesem Krieg um die Seelen."