In Moskauer Schulen werden nun "kriegspatriotische" Exkursionen angeboten.
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Moskau. Es ist ein sonniger, aber bitterkalter Frühlingstag. Verschlafen und in dicken Jacken steigen Teenager in den Bus. Tatjana Jurjewna spielt die Aufweckerin. "Willkommen zur Exkursion 'Wege des Sieges‘", flötet sie in das Mikrofon, während sich der Bus durch den Moskauer Morgenverkehr müht. Tatjana ist eine blonde Mittdreißigerin, schwarze Bobo-Brille, Blue Jeans. "Russia" steht in geblümten Lettern auf der Rückseite ihrer Adidas-Jacke. "Noch dazu völlig gratis!", fügt sie wie eine Marktschreierin hinzu.
Die Fahrt ist Teil eines "allrussisch-patriotischen Bildungsprogramms", das das russische Kulturministerium und die "Kriegs-historische Organisation" vor einem Jahr ins Leben gerufen haben. "Stellt euch vor, Kinder - in Japan glauben die Schulkinder, dass die Sowjetunion die Atombombe über Hiroshima abgeworfen hat, und nicht die USA." Tatjana dreht sich zu den Schülern um und zieht die Augenbrauen hoch. "Sie sind eben alle Vasallen der USA."
Heute geht es ins Museum des "Großen Vaterländischen Krieges", wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Vor Ort herrscht ziemliches Gedränge. Schüler aller Altersgruppen werden vor den Wandgemälden zu den großen Schlachten zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland im Akkord abgefertigt. Stalingrad, Leningrad, Kursk, die Schlacht am Dnjepr, Berlin. Eine Schulklasse trägt sogar Mützen der Roten Armee. Tatjana seufzt: "Die Schlacht von Stalingrad ist schon wieder besetzt." Die Wartezeit verkürzen sich die Schüler mit einem Kreuzworträtsel. "Schneller kriegerischer Vorstoß?" - "Ah, ‚Blitzkrieg‘!"
Russische Heldentaten werden betont
Später kommt die Gruppe zum Denkmal für die Opfer von Auschwitz. "Kennt ihr die Geschichte vom polnischen Außenminister? Der hat zuletzt behauptet, Auschwitz wurde eigentlich von den Ukrainern befreit. Die Armee, die Auschwitz befreite, hieß aber nur ‚I. Ukrainische Front‘, bestand aber aus Russen." Was Tatjana nicht sagt: In Wirklichkeit bestand die Armee nicht ausschließlich aus Ukrainern - aber eben auch nicht ausschließlich aus Russen. Der Historiker Timothy Snyder weist darauf hin, dass in dieser Einheit neben Russen auch viele Ukrainer kämpften, da die Rote Armee infolge schwerer Verluste vor allem in der Ukraine viele Einheimische rekrutierte.
Die Aussage ist Programm. Sollen doch immer die Heldentaten der Russen im Vordergrund stehen, damit die Schüler lernen, "stolz auf ihre Vergangenheit zu sein", sagt Wladislaw Sajaschnikow, Chef der Agentur für Binnentourismus, die das Programm umsetzt. Mehr als 62.000 Moskauer Schüler haben schon seit September am Programm teilgenommen, bald sollen die "kriegerisch-patriotischen" und "historisch-patriotischen" Touren auch auf St. Petersburg und auf die Krim ausgeweitet werden.
Warum gerade so ein Programm, gerade zu einer Zeit, in der in Europa wieder Krieg herrscht? "Das ist reiner Zufall", sagt Sajaschnikow. Sein Smartphone ziert ein Konterfei von Präsident Wladimir Putin, lässig, mit Sonnenbrille. "Ja, vielleicht gäbe es eine Verbindung zu unserem Programm, wenn denn Russland auch nur irgendwie an diesem Konflikt (im Donbass, Anm.) beteiligt wäre", sagt er nach einer kurzen Pause. "Aber das ist ja bekanntlich nicht der Fall."
Freilich fällt es schwer, die Exkursion nicht im Lichte der Ukraine-Krise zu lesen. Das Symbol der Tour ist das Sankt-Georgs-Band: Das schwarz-orange Bändchen, eigentlich ein Orden aus dem 19. Jahrhundert, wurde in der Sowjetunion zum Zeichen für den "Sieg über den Faschismus" umgedeutet. Heute ist es das Symbol der pro-russischen Separatisten im Donbass. In kremltreuen Medien wurde der Umsturz am Maidan als "faschistischer Putsch" diskreditiert. Auch Putin selbst stellt Parallelen zwischen der ukrainischen Armee und der Wehrmacht her: "Ihre Taktik erinnert an die der faschistischen Truppen in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Großstädte wurden eingekesselt und durch gezielten Beschuss zerstört, samt Einwohnern."
"Russland inszeniert heute den Krieg gegen die Ukraine als Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges, als Krieg gegen die Faschisten und ihre kapitalistischen Freunde", sagt Andreas Kappeler, emeritierter Professor für osteuropäische Geschichte in Wien. "Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg ist noch immer wirkungsmächtig und mobilisiert Emotionen."
Putin-Büsten und Stalin-Kalender im Shop
Letzte Station. Berlin brennt. Drei Soldaten halten bedächtig eine sowjetische Fahne in den Händen. Bald wird sie über dem Berliner Reichstag wehen. "So viele Menschen sind gestorben", seufzt Tatjana. "Und was haben unsere so genannten Verbündeten getan? Großbritannien und die USA?" Pause. "Nichts haben sie getan. Warum?" - Ein Schüler, etwas kleinlaut: "Weil sie zu feige waren und ihre Soldaten nicht opfern wollten?" - "Richtig! Wir haben Berlin befreit! Sie haben einfach zugeschaut und sich danach den fetten Kuchen aufgeteilt." Tatjana legt noch einmal nach. "Und was haben unsere lieben Verbündeten, die USA, danach gemacht? Die Nazis aufgenommen, Nazi-Wissenschafter, KZ-Wächter!"
Die Show ist vorbei. Im Geschenke-Shop beim Ausgang gibt es Putin-Büsten und Stalin-Kalender zu erstehen, gleich neben Spielzeug-Kalaschnikows, Puzzles mit Kriegsmotiven und Büchern wie "Krim - Geschichte einer Rückkehr." Die Chemie-Lehrerin, eine vornehme Frau mit Hut, würde sich am liebsten gleich wieder für die nächste Tour anmelden. "Die Kinder müssen einfach wissen, wer die Nummer eins ist auf der Welt - nicht die USA oder irgendeine Ukraine, sondern Russland!"
Auch der Schülerin Maria hat es gefallen. "Wir haben den großen Sieg errungen - und nicht die USA! Unser Boden ist gesäumt von Leichen - und nicht ihrer!" Nachsatz: "Das scheinen sie gerade wieder zu vergessen."