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Verpasste Chance

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Polen nutzt die Chance nicht, nach dem EU-Austritt Großbritanniens seine Position in der Union zu stärken.


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Warschau/Brüssel. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer sollte es reichen. So ähnlich wie das polnische Reich vor Jahrhunderten. Nur wäre es diesmal ein Staaten-Zusammenschluss, ein Bund vorwiegend slawischer Länder, der ein Gegengewicht zu den deutschen und russischen Nachbarn bildet. Die von Marschall Jozef Pilsudski vor knapp hundert Jahren lancierte Idee des Intermariums, des "Zwischenmeers", erlebte in den vergangenen Monaten eine Neuauflage, die für ebensoviel Staunen wie Unverständnis sorgt. Mitglieder der nationalkonservativen Regierung in Warschau sprachen von einer derartigen regionalen Kooperation, von einer Stärkung der losen Zusammenarbeit der vier Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien.

In solchen Fantasien wird jedoch die aktuelle Situation der Europäischen Union kaum berücksichtigt - und damit möglicherweise eine außergewöhnliche Chance nicht genutzt. Nach dem Referendum über einen Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der Gemeinschaft, werden sich die politischen Gewichte verschieben, neue Achsen entstehen, Debatten über Reformen in der EU neu entbrennen. Polen, das größte jüngere EU-Land, das trotz manch kritischer Aussage die Vorteile der EU-Mitgliedschaft durchaus zu schätzen weiß, könnte die Gelegenheit ergreifen, eine größere Rolle in der Union zu spielen, sich mit konstruktiven Vorschlägen einen wichtigeren Platz zu sichern.

Vergangene Erfolge

Danach sieht es aber nicht aus. Stattdessen taucht in den Diskussionen das Wort Intermarium auf.

Dabei hat es schon eine Zeit gegeben, in der Polen die Chance gehabt hätte, seine Position unter den wichtigsten EU-Mitgliedern zu festigen und die Achse Paris-Berlin-Warschau zu stärken - zumal es sowieso Teil des Weimarer Dreiecks ist, in dem die drei Staaten lose kooperieren. Auf diese nicht allzu weit entfernte Vergangenheit verweist der Leiter der Warschauer Stefan-Batory-Stiftung, Aleksander Smolar. "Wären wir in einer Situation wie vor zwei, drei Jahren, wäre es vorstellbar gewesen, dass Polen nach dem Brexit seine Möglichkeiten zu nutzen versucht", sagt der Politologe im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Damals habe das Land eine starke Stellung in der EU gehabt: Es hatte gute Beziehungen zum Nachbarn Deutschland, und es konnte neben wirtschaftlichen auch außenpolitische Erfolge vorweisen, wie die ersten Vermittlungen im beginnenden Konflikt um die Ukraine. Wegen seiner Größe und Bevölkerungszahl sei es im Westen als ernst zu nehmender Gesprächspartner betrachtet worden.

Doch diesen Kurs hat die Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) mit Jaroslaw Kaczynski an der Spitze nach dem Machtwechsel im Vorjahr nicht weiterverfolgt. Smolar führt als Beispiel dafür die Erklärung von Außenminister Witold Waszczykowski an, in der dieser Großbritannien und nicht mehr Deutschland als wichtigsten politischen Partner nannte. Das sei unvernünftig gewesen, meint der Politikwissenschafter. Zu dem Zeitpunkt, Anfang des Jahres, war schon klar, dass es auf der Insel ein Austritts-Referendum geben wird.

Auf Distanz zu Berlin

Mittlerweile ist Warschau zu Berlin noch mehr auf Distanz gegangen, ebenso wie zu Brüssel, wo die EU-Kommission wegen eines Verfassungsstreits ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in dem Land eingeleitet hat. Es fehle nun an Vertrauen zwischen den Partnern, konstatiert Smolar: "Und dass die aktuelle polnische Regierungsmannschaft das Vertrauen wieder herstellt, scheint unwahrscheinlich."

Doch ebenso wenig in Sicht ist die Bildung eines anderen einflussreichen Bündnisses im Rahmen der Visegrad-Gruppe. Smolar ist nicht der einzige Experte, der auf die unterschiedlichen Interessen der vier Staaten hinweist. Auch Vit Dostal findet, dass die Strategie Polens, das derzeit den Vorsitz der Gruppe hat und sich auch sonst gerne als Anführer in der Region sehen würde, auf "falschen Erwartungen" beruht. Der Leiter des Forschungszentrums des tschechischen Verbandes für Internationale Angelegenheiten (AMO) wirft in einem Diskussionspapier die Frage auf, ob das Konzept des Intermariums sich als Falle oder als Trumpf für die Visegrad-Staaten erweisen kann.

Seine Antwort fällt für Warschau wenig glücksverheißend aus. So gut wie niemand wolle in einen Streit mit Berlin oder Brüssel verwickelt werden, dessen Ursprung in polnischen Problemen liege, schreibt Dostal. Selbst wenn die ungarische Regierung sich ebenfalls auf nationalistische Überlegungen stützt, sehen andere ost- und mitteleuropäische Länder ihre Zukunft nicht in der Abgrenzung von Westeuropa, sondern in einer weitergehenden Integration. Weder Prag noch Bratislava würden Teil einer Allianz gegen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel werden.

Doch nicht nur deswegen muss Warschau aufpassen, sich nicht in der EU zu isolieren. Mit Großbritannien fällt ein gewichtiges Land weg, das - wie Polen - kein Mitglied der Eurozone ist. Aber genau diese werden die künftigen Reformen wohl in erster Linie betreffen. Wollen die Osteuropäer nicht an den Rand gedrängt werden, müssen sie einen Weg finden, in die Währungsgemeinschaft eingebunden zu werden.