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Verrat an der Jugend

Von Reinhard Göweil

Leitartikel

Immer mehr, vor allem Jugendliche, überspringen mittlerweile die ersten Seiten in den Tageszeitungen, drehen den Fernseher nicht mehr auf, schauen keine News mehr im Internet. Sie verweigern sich einer grauenvollen Realität, und es ist ihnen nicht zu verdenken.


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In Japan geht mit Leid auf "live-stream" die High-Tech-Society unter. In Libyen und Bahrain versinkt der Glaube an die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte. Im einen Land werden außer Kontrolle geratene Kernreaktoren sich selbst überlassen, und mit der ursprünglichen Erdbeben-Tsunami-Katastrophe ist es heillos überfordert. In den anderen dürfen durchgeknallte Diktatoren ihre gewaltige Willkür folgenlos ausleben. Die Welt schaut zu. Fassungslos, aber mehr noch: untätig. In Japan, weil den Nuklear- und Katastrophen-Experten im Rest der Welt auch nichts mehr einfällt; in der arabischen Welt, weil geopolitisch-ökonomische Interessen von Großmächten schwerer wiegen als Menschen, die Freiheit fordern.

Das Beispiel, das die jetzigen Vertreter der "internationalen Staatengemeinschaft" in beiden Fällen bieten, beweist, dass sie von der Globalisierung nichts verstanden hat, gar nichts. Was machen 18-Jährige im Angesicht solcher Tragödien? Was machen sie, wenn sie die gespenstischen Auftritte des japanischen Kaisers und von Muammar Gaddafi in TV-Sendern verfolgen? Sie drehen ab. Aber sie drehen nicht nur ab, sie verabschieden sich. Denn deren Botschaft lautet: Dieses System richtet die Welt und ihre Werte zugrunde.

Es mag übertrieben klingen, aber in den vergangenen 72 Stunden ist vermutlich mehr Vertrauen zugrunde gegangen als sonst in einer Generation. Denn die heute 18- bis 20-Jährigen sind mit der Globalisierung sozialisiert worden. Sie hören seit ihrer Kindheit, dass es "one world" gibt. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wenn ein japanischer Politiker lügt, lügen auch europäische. Wenn die EU dem zynischen Gemetzel in Libyen und Bahrain zuschaut und Flüchtlinge vor Lampedusa ertrinken lässt, dann kann es mit der europäischen Wertegemeinschaft nach innen auch nicht weit her sein.

Woran sollen diese Jugendlichen noch glauben? Hier wird ein Verrat betrieben, der weit über die aktuellen Katastrophen hinausgeht. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass diese Generation mehrheitlich zum Entschluss kommt, Globalisierung ganz anders zu definieren. Denn Globalisierung kann mittlerweile nur noch bedeuten, sich gesamtheitlich einzumischen und staatliche Organisationen in allen Bereichen als das zu nehmen, was sie geworden sind: in einer globalen Gesellschaft irrelevant.