Zum Hauptinhalt springen

Verschollenes Getto-Archiv unter chinesischer Botschaft?

Von Michael Schmölzer, Warschau

Politik

Nachdem Einheiten der SS die unbeschädigten Reste des Warschauer Gettos im Mai 1943 dem Erdboden gleichgemacht hatten, glich das Gebiet einer Mondlandschaft. Nichts mehr da, was vom elenden Dasein der Warschauer Juden, die ab 1940 von den Nazis auf kleinstem Raum zusammengepfercht wurden, Zeugnis ablegen könnte. So schien es zumindest. Dem Jüdischen Museum in Warschau ist es dennoch gelungen - seit einigen Jahren mit tatkräftiger Unterstützung österreichischer Gedenkdienstleistender - unschätzbare Dokumente zu sammeln und auszuwerten. Und immer wieder findet sich bisher unbekanntes Material, das von Mitgliedern des jüdischen | Getto-Widerstandes für die Nachwelt gesammelt wurde. Derzeit verfolgt ein israelischer Student und Hobbyarchäologe eine besonders heiße Spur.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Das Vorhaben des Uri Mintzger wirkt auf den ersten Blick zu phantastisch, als dass man dem Projekt irgendeine Chance auf Erfolg zubilligen möchte: Der Politikwissenschaft-Student aus Israel hat sich nämlich nichts Geringeres in den Kopf gesetzt, als die verschollenen Reste des so genannten "Ringelblum-Archivs" - im Jahr 1999 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt - aufzuspüren. Es handelt sich bei dem Archivbestand um eines der wichtigsten Dokumente über das Warschauer Getto und einen der bedeutendsten Schätze des Jüdischen Museums. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im September 1946, wurde der erste Teil des Archivs unter den Trümmern des Warschauer Gettos zutage gefördert. Die Widerständler der Gruppe "Oneg Shabbat" rund um den 1944 umgekommenen Historiker Emanuel Ringelblum hatten das Material in Kassetten und gusseiserne Milchkannen verpackt und im Gettogebiet vergraben. Der zweite Teil wurde im Dezember 1950 gefunden. Der dritte Teil, vermutlich auch in gusseisernen Milchkannen versteckt - er soll schätzungsweise 20 bis 30 Prozent des Gesamtbestandes ausmachen - galt bisher als unwiederbringlich verloren.

Ein für die Forschung äußerst schmerzhafter Verlust, denn Ringelblum und seine Mitarbeiter dokumentierten das Getto-Leben auf vielfältige Weise und unter Verwendung von äußerst modernen wissenschaftlichen Methoden, wie Robert Kogler, derzeit Gedenkdiener im Jüdischen Museum, erklärt: Der vorhandene Ringelblum-Nachlass umfasst beispielsweise einige Dutzend Titel der jüdischen Untergrundpresse, statistische Materialien, literarische Werke, Zeichnungen und Fotografien, Lebensmittelkarten, Reklameschriften und sogar Verpackungen von Waren, die im Getto hergestellt wurden. Außerdem regte Ringelblum jüdische Schulkinder dazu an, Aufsätze zum Thema "Ein Tag im Getto" zu verfassen: Der jüdische Widerständler wollte so der Nachwelt einen Eindruck davon vermitteln, wie sich der Gettoalltag aus Kinder-Perspektive darstellte.

Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen in der Vergangenheit, ist es nun der Hobbyarchäologe Uri Mintzger, der mit modernen technologischen Mitteln den verschwundenen Restbestand bergen will. Mintzger stützt sich dabei hauptsächlich auf das Erinnerungsvermögen von Marek Edelmann, der letzte Überlebende des 5-köpfigen Vorstandes der jüdischen Kampforganisation (ZOB), der den Gettoaufstand maßgeblich mitorganisiert hat. Nach den Angaben Edelmans soll der abgängige Bestand unter der Schwelle eines Kellerabteils eines Wohnhauses, das bei der Niederschlagung des Ghetto-Aufstandes vollkommen zerstört wurde, in einem Meter Tiefe vergraben worden sein. Uri Mintzger kombinierte Edelmans Erinnerungen mit dem heutigen Stadtbild und erstellte eine dreidimensionale Computergrafik zur Lokalisierung des verlorenen Archivs. Ergebnis: Das gesuchte Gut müsste sich auf dem Gelände der heutigen chinesischen Botschaft befinden, genauer gesagt, im Garten derselben. Dem Vernehmen nach soll die Pekinger Vertretung ihre Zustimmung zu etwaigen Grabungen bereits gegeben haben, der Beginn der Bergungsarbeiten steht allerdings noch aus. Zweifel an den Erfolgschancen des Unternehmens haben derzeit scheinbar noch die Oberhand.

Aus Mangel an Geld

Aber nicht nur im Erdreich Warschaus, auch in den Archivräumen des Jüdischen Museums werden einmalige Zeitzeugnisse aus den Jahren 1939 bis 1945 vermutet. Diese aufzuspüren ist allerdings mit enormem Personal- und Ressourcenaufwand verbunden. Denn in den insgesamt fünf großen Archivräumen des Instituts stapelt sich das Material kubikmeterweise: Hier finden sich neben umfangreicher Korrespondenz verschiedenster NS-Behörden, nach 1945 abgefasste Berichte von Holocaust-Überlebenden, schriftliche Zeugnisse der Gettobewohner aus der Periode 1940-1943, Testamente aus dem 19. Jahrhundert, antisemitische Plakate ungewisser Provenienz und Anweisungen des Judenrates. Längst sind die enormen Bestände nicht vollständig gesichtet. Dazu mangelt es dem Jüdischen Museum an der finanziellen Ausstattung. Neben einigen, völlig unterbezahlten Freiwilligen aus Polen, leisten auch nicht gerade fürstlich entlohnte österreichische Gedenkdiener tagtäglich Knochenarbeit: Verschiedenste Akten müssen durchgesehen, EDV-mäßig erfasst und manchmal auch übersetzt werden.

"Gettokuchen"

Dabei fallen den Mitarbeitern des Museums immer wieder Dokumente von großer historischer Bedeutung in die Hände: Erst vor kurzem wurde ein ausständiger Teil der sogenannten "Getto-Enzyklopädie" entdeckt. Verfasst wurde das auf Karton-Karteikarten geschriebene Werk von den Lodzer Gettoinsassen Oskar Singer, der vor 1939 Chefredakteur einer jüdischen Zeitung in Prag war, und seinem Mitarbeiter, Oskar Rosenfeld. Die Kartei - an eine Buchveröffentlichung in nächster Zeit wird bereits gedacht - enthält eine Vielzahl von deutsch-jiddisch-hebräischen Wortschöpfungen, die so etwas wie ein "Gettolatein" darstellten. Es war dies eine Sprache des Untergrundes, die den täglichen Überlebenskampf der Juden widerspiegelt. So kam um 1940 der Ausdruck "Gettokuchen", "Babka" genannt auf: Das Backwerk bestand aus einigen zusammengemixten Gemüseabfällen. Die meisten Wortneuschöpfungen kreisen um den Bereich Nahrung und deren Beschaffung, sowie das "Organisieren" lebensnotwendiger Güter.