Der Wechsel zwischen der deutschen Vatersprache und der kroatischen Muttersprache: ein neues Lied, das man anstimmte, um den Gesetzen eines anderen Denkens und Fühlens zu folgen.
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Einmal, vielleicht, wurde ich von einer Pressefrau gefragt, was mir "auf Anhieb zum Thema Sprache" einfalle. "Auf Anhieb nichts", gab ich zur Antwort, und dachte dabei an den Filmtitel "Bei Anruf Mord", vielleicht, weil er die gleiche Silbenzahl hat, wie meine Antwort, oder weil die Antwort wie aus der Pistole geschossen kam. Und weil ich schon beim Wort Mord war, erzählte ich diese Geschichte:
Bachmanns Kopf
In einer Parkanlage neben dem Klagenfurter Stadttheater befindet sich auf einer Marmorstele mit der Inschrift INGEBORG BACHMANN eine lebensgroße Bronzebüste. Anders als die meisten Büsten, die oft auch einen Oberkörperanschnitt zeigen, die Schlüsselbeine, die Schultern, besteht diese nur aus Kopf und Hals, einem Halsstummel eigentlich. Als ich die Büste das erste Mal sah, dachte ich sofort an einen früheren Vorgesetzten, der mir damit gedroht hatte, mir den Kopf abzureißen, wenn ich mich nicht von der Presse fernhielte, und dachte auch an den alten Brauch, Feinde und Verräter zu enthaupten, ihre Köpfe aufzuspießen und auszustellen, und an das Märchen von der Gänsemagd und ihrem Pferd Falada, dessen Kopf - von der falschen Braut abgehackt und vom Fleischhauer an ein Tor genagelt - jedes Mal zu dem Mädchen sprach, wenn es zum Torbogen kam. "O Falada, da du hangest!" "O Jungfer Königin, da du gangest (. . .). Wenn das deine Mutter wüsste, das Herz tät ihr zerspringen."
Was, so dachte ich weiter, wenn der Kopf der Ingeborg Bachmann unverhofft zu mir redete? Man weiß es von alten Erzählungen: Oft sind nach Enthauptungen noch Reaktionen des abgetrennten Kopfs zu erkennen. Mancher spricht noch oder schließt die Augen, sobald man ihn blendet oder erschreckt. In alten Zeiten soll es Scharfrichter gegeben haben, die mehrere Schwerthiebe benötigten, den Kopf vom Rumpf zu trennen. Todeskandidaten, die es sich leisten konnten, steckten ihrem Henker hohe Geldsummen zu, um eine Hinrichtung in einem Zug zu erhalten.
Jemandem den Kopf abzureißen, weil er sich nicht von der Presse fernhält, ist unangemessen, denke ich nun, da ich an die Pressefrau denke - und daran, was mir "auf Anhieb . . .", Hieb! . . . "Soll ich ein bisschen ausholen?", fragte ich die Pressefrau; "Auf Umwegen fällt mir immer was ein. Denken Sie nur: Oktober!"
Denken Sie nur: Vor drei Wochen bat mich ein Klagenfurt-Besucher, ihm die Bäume zu zeigen, von denen Ingeborg Bachmann schrieb, dass man sie an schönen Oktobertagen von der Radetzky-straße kommend neben dem Stadttheater in der Sonne sehen könne. Er sehe dort nämlich zwar überall Bäume, aber vielleicht nicht dieselben Bäume, von denen Ingeborg Bachmann schrieb, dass man sie an schönen Tagen . . . und es sei schon Ende September und Ende September so gut wie Oktober . . .
"Keine Ahnung", gab ich zur Antwort, und dass die Suche zwecklos sei, weil doch keiner mit Sicherheit wisse, worauf sich ein Dichter im Text bezieht, etwas Reales oder ein Inbild, eine Erleuchtung, wenn man so will, eine erfundene Wahrheit womöglich, die in Wirklichkeit Dichtung bleibt und ohne weltlichen Schauplatz - anderenfalls wär auch der Engel zu suchen, der die Fackel da fallenließ, denn auch vom Engel ist die Rede in Ingeborg Bachmanns Erzählung.
Die Asche der Bäume
Also bot ich dem Suchenden an, ihm meine Geschichte zum Ort zu erzählen, wenngleich sie an einem Septembertag spielt [ich, von der Radetzkystraße kommend, am Stadttheater vorbeigehend, das dreijährige Kind an der Hand, das siebenwöchige Kind auf dem Arm, das Handyläuten dann und die Mutter, aufgeregt, weil ein Flugzeug, nein, vielleicht zwei, nichts Genaues, oder mehr, New York, ja, dort, und irgendwo, im Fernsehen, wie heißen die Türme?, ja, Sondersendung, eingestürzt, zuerst geglaubt ein schlechter Film . . .], doch der Besucher winkte ab, es gehe ihm nur um die fraglichen Bäume, und ich gab sogleich zu bedenken, dass die Bäume abgebrannt sind, vom Engel selbst in Brand gesteckt, abgefackelt im wörtlichen Sinn, also fände man allenfalls Asche, wenn sie der Wind nicht fortgeweht hat, eines aber fände man sicher: einen bizarren Bronzekopf, der im Traume zu mir spricht: Wenn das deine Mutter wüsste . . .
Da zeigte der Mann mir den Vogel und ging.
Und die Pressefrau fragte nervös: "Ist das wahr, was Sie sagen?" Und ich: "Beinah so wahr wie Sie!"
Dann erzählte ich weiter: Jedes Jahr sieht man in der Klagenfurter Fußgängerzone neue Transparente und Liegestühle mit Ingeborg-Bachmann-Zitaten. "Alles ist eine Frage der Sprache", las ich zuletzt, weiße Schrift auf Dunkelblau, und dachte dabei an Florjan Lipu, der am 1. Oktober 2018 zu- recht mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet wurde, obwohl er als Kärntner Slowene ausschließlich auf Slowenisch schreibt, was den vorschlagsbefugten Österreichischen Kunstsenat noch vor zwei Jahren dazu veranlasst hat, ihn, den großen österreichischen Schriftsteller, als möglichen Preisträger abblitzen zu lassen, getreu dem Leitsatz "Der Kärntner schreibt Deutsch!"
Die Wahl der Sprache
Ich erinnerte mich daran, wie sich manche schon zum Gegenschluss verstiegen, dass er den Preis nun doch nur erhalte, weil er auf Slowenisch schreibt, und dachte an Maja Haderlap, der mancher es verleiden wollte, als Kärntner Slowenin auf Deutsch zu schreiben, und dachte, dass die Wahl einer Nationalsprache in der Kunst niemals Kriterium sein darf, dass aber die Wahl der Sprache als literarisches Ausdrucksmittel das Kriterium sein muss, und dachte auch an meine eigene Geschichte, daran, wie mir das Deutsche, die Sprache meiner Alphabetisierung und Sprachzüchtigung, zur Geheimhaltung diente, und daran, wie schutzlos die Mutter war mit ihrem gebrochenen Deutsch und wie angreifbar ich selbst war mit meinem in Kärnten ganz und gar ausgefallenen Nachderschrift, auf dem der Vater aber bestand.
Ich dachte an eine Art Fremdsein, die mir immer geläufig war, soweit die Erinnerung reicht. Und an die langen Briefe, die ich als Kind an die Eltern schrieb und später nur an Unbekannt, an ein liebes Tagebuch, weil mir in Jugoslawien, wo ich die Sommer bei den Großeltern mütterlicherseits verbrachte, das Sprechen der dort unter Generalverdacht stehenden Vatersprache versagt und verunmöglicht war. Und hier?
Mutters Sprache verriet uns, auch wenn sie sie gar nicht sprach, denn unüberhörbar der Bruch ihrer Rede, wenn sie das Deutsche ungeachtet seiner Härte, selbst im Heitersten noch Ernst!, mit der Leidenschaft der dalmatinischen Inselmenschen belud: Ein Wetterleuchten, wenn sie schimpfte, ein Wort- und Bildersturm, wenn sie sich kränkte oder ins Schwärmen geriet. In ihrer Muttersprache war sie eine andere, ihre Gebärden und Mienen schmiegten sich ans Wort, und ihre Stimme wiegte sich darin, als sei ihr die Fülle des Daseins nur in dieser Sprache zugänglich, als sei sie ganz und gar nach ihr gestimmt.
Der Wechsel zwischen den Sprachen war mehr als der Wechsel des Zungenschlags, war ein neues Lied, das man anstimmte, um den Gesetzen eines anderen Denkens und Fühlens zu folgen. Bald fiel mir die Vatersprache leichter, doch hielt sie mich nicht geborgen wie die Muttersprache, in der ich fühlte und fluchte und sang, wenngleich mich mein österreichisches R gleich als Fremde entlarvte. "Wirklich?", rief die Pressefrau aus.
"Also wirklich!", entgegnete ich.
Dass man gar nicht anderswo geboren oder zeitweise woanders aufgewachsen sein oder eine jugoslawische Mutter haben und selbst umso "schöner" sprechen musste, um in Kärnten auf Glatteis zu gehen, ahnte ich lange nicht.
Von einer Minderheit hörte ich erst, als im Schulunterricht von der Kärntner Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 die Rede war. Dass manche Schulkameraden Slowenisch sprachen, im stillen Kämmerlein und in den eigenen Wirtshausstuben, blieb verborgen. Dass ihre Sprache rechtmäßig ist, hat man uns nicht gesagt. Dass sie gleichwürdig ist, gilt manchem bis heute nicht. Selbst das Schweigen ist wesenhaft eine Frage der Sprache - und der junge Mensch lernt es schnell und staut es in seiner Wut.
Stehen wir Schriftsteller nicht in der Pflicht, das Privileg der Öffentlichkeit zu nutzen, gegen ein Unrecht aufzubegehren? Wo wären wir ohne Stefan Zweig, Alfred Polgar, Josef Roth, Ilse Aichinger, Elfriede Jelinek und viele, viele andere, deren Haltung für das österreichische Geistesleben so lebenswichtig war und ist? Und stehen wir nicht auch in der Pflicht, wachsam auf uns selbst zu sein, das Privileg nicht zu missbrauchen?
Die Freiheit der Kunst steht denen zu, die der Kunst gerecht werden - nicht denen, die sie zersetzen. Und wenn wir von Freiheit reden: Wer sich den Regeln der Absetz- und Konsumierbarkeit unterwirft, kann kein freier Schriftsteller sein, wird nur den Konsumismus befeuern, der den sprachlichen Tiefflug in Kauf nimmt, den Leser um ästhetische Erfahrungen bringt. Finden nicht politische Verlotterung, Realitätsverlust und Abstumpfung ihre literarische Parallelität in der ironischen Distanz zum Erzählten, im ewig Launigen, das heute von vielen bevorzugt wird?
Der Märchen-Kapitän
Dann sagte ich zur Pressefrau: Auch Kritiker stehen in der Pflicht. Sie sind die Schleusenwärter, die das Schicksal eines Werks und damit des Autors bestimmen, indem sie den Blick einer breiten Öffentlichkeit lenken und literarische Tendenzen fördern.
Beim Wort Schicksal fiel mir ein: Als Dreißigjähriger schrieb Goethe in sein Tagesbuch: "Das Leben ist so geknüpft und die Schicksale so unvermeidlich. Wundersam! Ich habe so manches getan (ich möchte sagen: erlitten), was ich jetzt nicht möchte getan (erlitten) haben, und doch, wenn’s nicht geschehen wäre, würde unentbehrliches Gute nicht entstanden sein. Es ist, als ob ein Genius oft unser Hegemonikon verdunkelte, damit wir zu unsrem und andrer Vorteil Fehler machen."
Nach der Verabschiedung des Freunds, der sich während meiner Afrikareise im Winter 1990 mit einer Überdosis aus seinem Kinderzimmer in die Ewigkeit gebeamt hatte, auf der zehn- oder zwölfminütigen Autofahrt vom Friedhof Annabichl in die Innenstadt von Klagenfurt, legte der am Steuer sitzende Vater eine Doppelconférencen-Kassette ein, wohl weil er keine Worte hatte, uns siebzehnjährige Mädchen aufzuhellen, die wir knieweich und rot- äugig auf der Rückbank saßen, betäubt vom gebetsmühlenartig wiederholten Satz "Der Mensch ist Gast auf dieser Erde" und vom Anblick des Sargs aus rohem Fichtenholz, in dem - wer wollte es wahrhaben? - der Adressat jenes Liebesbriefes lag, den ich in Theben aufgegeben hatte und der noch irgendwo auf halbem Weg sein musste zwischen Afrika und der Klagenfurter Stadtrandsiedlung. Ich erinnere mich genau, wie Karl Farkas an einer Stelle "Schrecklich!" ausrief, und Ernst Waldbrunn daraufhin: "Schrecklich ist was anderes, Karl, schrecklich ist was anderes! Schrecklich ist, wenn du auf hoher See bist, in jeder Hand einen Koffer - und kein Schiff unter den Füßen." (Lachen).
Eine meiner liebsten Kindheitsgeschichten war die vom Kapitän, der an Bord seines sinkenden Schiffes bleibt und stolz und wortlos mit ihm untergeht. "Es ist wirklich wahr", sagte die dalmatinische Großmutter, "Wirklich wahr: So steht er auf seiner Kommandobrücke" - und dabei stellte sie sich jedes Mal sehr aufrecht vor mich hin, das Kinn hoch, die gestreckten Finger der rechten Hand an der Schläfe, den Blick ins Weite gerichtet, während ich mir vorstellte, wie dem Heroj das Meer zuerst die Leinenschuhe benetzte, wie es binnen kurzem seine Hosenbeine umspülte, ihm wenig später bis zur Hüfte und kurz darauf bis zum Hals stand, sich alsbald mit dem salzigen Wasser seiner Augen mengte, ihm die Stirn bedeckte und sich endlich als letzte Welle über seinem Scheitel schloss. Ich wäre damals selbst gern ein bisschen heldenhaft gewesen, jedenfalls nicht zu denen gehörig, die ein sinkendes Schiff zuerst verlassen: Kinder, Frauen, Feiglinge und Ratten.
Allein: Ich war auf dem falschen Dampfer.
"Wirklich?", fragte die Pressefrau. "Ziemlich wirklich", gab ich zurück.
Die Einsicht mit dem falschen Dampfer hatte ich, als ich Chris- tian Ide Hintze, damals Direktor der Wiener Schule für Dichtung, im Café Ritter zu einem Interview traf - und zwar in dem Moment, da ich meine Kaffeetasse zum Mund führte, damit mir das Wort Spinner nicht über die Lippen komme.
Das Wort hatte sich mir in den Kopf gesetzt, als Christian Ide Hintze mir von seiner winzigen Bassenawohnung mit Klo am Gang erzählte, war mir beim Nicken wasserwaagenluftblasenartig unter der Schädeldecke herumgerutscht und hatte sich mir auf die Zunge gelegt, wo es merklich zu werden drohte - Spinner!, Spinner!, Spinner! -, womöglich so laut, dass die Kaffeehausgäste mein Gegenüber in Schutz genommen hätten, ahnungslos, dass ich nicht Hintze meinte, sondern mich, das eigene Schreiben wie eine peinliche Krankheit verheimlichend, ein Écrivain fantôme, sicherheitshalber an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien als ordentliche Studentin eingeschrieben.
Musikpoeten als Vorbild
Ich nahm noch einen Schluck Kaffee, sah Christian Ide tief in die Augen und hoffte inständig, er möge meinen falschen Dampfer entern und mich in die verwegene Welt der Klo-am-Gang-Existenzen entführen. Tatsächlich lud er mich freundlich ein, in der Schule für Dichtung vorbeizuschauen, doch bezweifelte ich gleich, dass ich mir dort, wie er sagte, die Schädeldecke aufklappen ließe, um nachzusehen, was drinnen ist, denn je mehr ich über die Heilkunst erfahren hatte, desto vielfältiger waren die Leiden geworden, von denen ich mich befallen glaubte.
Längst war ich der Vorstellung erlegen, nahestehende Personen seien hinter meinen Tagebüchern und Aufzeichnungen her, um da-rin Enthaltenes als Krankheitszeichen oder als Zeichen meiner Fremd- und Verderbtheit zu deuten. Da blieb nichts anderes übrig, als jedes Mal kurz vor Fertigstellung eines Manuskripts Zündhölzer bereitzuhalten, um zum einzig wahrhaftigen Ende zu gelangen und der Entdeckung zu entgehen.
"Hatten Sie literarische Vorbilder?", fragte die Pressefrau. "Nur die großen Musikpoeten", schoss es mir durch den Kopf, "Die aber angebetet, Cave und Cohen und Heller . . .". Die Musik war die Trägersubstanz für alles, was das Wort allein nicht hielt. Ohne sie ging mir kein Satz unter die Haut. Vielleicht ist die Musik heute noch die einzige Sprache, der ich über den Weg traue.
Klingendes Schweigen
Damals zwang ich mich zur Einsicht, dass ich, da ein falscher Dampfer niemals unterginge, zwar nicht das Schicksal des Heroj aus der großmütterlichen Erzählung teilen, aber früher oder später wenigstens wie der Steuermann aus Walter Whitmans "O Captain! My Captain!" tot an Deck liegend und vielleicht von zwei, drei schönen Matrosen beweint in meinen Hafen heimkehren würde. Die Schule für Dichtung jedenfalls besuchte ich nicht ein einziges Mal.
"Und heute?", fragte die Pressefrau. Ich beherrsche die Sprache nicht, es reicht, dass sie mich beherrscht. Die tote Bildhaftigkeit der gebräuchlichen Begriffe bleibt mir unheimlich. Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort, um es mit Rilke zu sagen. Ich schreibe, weil ich nicht reden kann, weil sich’s dabei schweigen lässt und trotzdem etwas anklingt. Und jedes Mal die Wut über den Verlust des Wunderbaren, das um das Unausgesprochene ist.
Nach dem Schreiben kommt immer ein Verstummen.
Anna Baar, geboren 1973 in Zagreb, Tochter eines österreichischen Vaters und einer dalmatinischen Mutter, studierte Publizistik und Theaterwissenschaft. Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin lebt in Klagenfurt und Wien. Ihre Romane "Die Farbe des Granatapfels" (2016) und "Als ob sie träumend gingen" (2017) sind im Wallstein Verlag erschienen .