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"Verschuldungsverbot für den Staat"

Von Walter Hämmerle

Wirtschaft

Kirchhof fordert für Österreich und Deutschland radikale Vereinfachung des Steuersystems. | "25 Prozent auf alle Einkommen." | Aus für Shareholder-Konzept und Aktien-Optionen. | "Wiener Zeitung": Ihr zentraler Vorwurf an das bestehende System lautet, wenn ich Sie richtig verstehe, dass es an Gerechtigkeit fehlt. Was verstehen Sie unter Gerechtigkeit? | Paul Kirchhof: Ich spreche von Gerechtigkeit im Steuersystem, und die bedeutet für mich, dass jeder, der einen Zuwachs an Leistungsfähigkeit erwirtschaftet, von diesem auch einen maßvollen Teil an den Staat abgeben soll.


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Wenn also jemand ein Einkommen erzielt, indem er das Vertragsrecht für sich nutzt, das Währungsrecht anwendet, um seinen Preis festzulegen, er von der guten Ausbildung seiner Arbeitnehmer profitiert oder von der Kaufkraft Österreichs, die sein Entgelt finanziert, dann soll er einen maßvollen Teil dieses Einkommens an die Allgemeinheit zurückgeben.

Zentral dabei ist, dass der Maßstab dafür für jedermann einsichtig ist. Der biblische zehnte Teil wird heute nicht mehr ausreichen, deshalb schlage ich 25 Prozent vor. Jeder, der als anständiger Kaufmann und Bürger angesehen werden will, soll diesen Teil von seiner erworbenen Leistungsfähigkeit abgeben. Dies würde dazu führen, dass Rechtsbewusstsein auch wieder zu Gerechtigkeitsbewusstsein wird.

Politik hat, so Ihre These, die Menschen entmündigt, Sie träumen von einer neuen Verantwortungsgesellschaft, die Manager genauso wie Sozialhilfeempfänger in ihre je eigene Pflicht nimmt. Träumen Sie nicht wie einst der Sozialismus von einem neuen Menschen, den es vielleicht gar nicht oder zumindest nicht mehr in ausreichender Zahl gibt?

Das Gegenteil ist richtig, ich möchte die Menschen wieder in ihre Freiheit zurück entlassen. Wer Einkommen erworben hat, weiß selbst am besten, was er damit zu tun hat. Wenn der Staat etwa Anreize für bestimmtes Verhalten schafft, dann hält er die Bürger für unmündig. Genau das möchte ich ändern, deshalb ist mein Freiheitsmodell das Gegenteil vom sozialistischen Modell.

Ihr Modell erinnert an den biblischen Spruch: "Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen."

Niemand wird bei uns verhungern oder ohne Dach über dem Kopf leben müssen. Unsere Verfassung schreibt vor, dass jeder, der hier zugehörig ist, Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand haben muss. Das gilt für diejenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht arbeiten können, und auch für die, die nicht arbeiten wollen. Freiheit ist nicht erträglich, wenn es keinen Mindestausgleich in sozialer Hinsicht gibt.

Hartz IV, die heftig umstrittene deutsche Arbeitsmarktreform, geht demnach für Sie in die richtige Richtung: Diese steigert die Anreize, auch schlechter bezahlte Arbeitsplätze anzunehmen, indem sie den finanziellen Druck auf Arbeitslose massiv erhöht. Derzeit allerdings wird in der SPD wieder laut über eine teilweise Rücknahme dieser Maßnahmen nachgedacht.

Diese Reform sucht die richtige Richtung, allerdings würde ich ein System bevorzugen, in dem der Arbeitsmarkt über eine größere Flexibilität die Probleme löst und nicht der Staat durch Beihilfen. Klar aber ist: Ganz ohne den Staat geht es in dieser Frage nicht.

Exzessive Managergehälter in Verbindung mit diversen Wirtschaftsskandalen drohen das Grundvertrauen der Menschen in die Marktwirtschaft zu erschüttern. Aber genau auf dieser baut Ihr ganzes Gedankengebäude auf.

Diese Vorkommnisse sind kein Problem der Marktwirtschaft, sondern einer nicht hinreichend angewandten Marktwirtschaft. Vorstandsgehälter werden derzeit von Unterausschüssen des Aufsichtsrats festgelegt. Das müssen wir ändern. Gehälter von Managern, die ja auch Angestellte des Unternehmens sind, müssen wieder zu einem Thema werden, an dem alle, die davon betroffen sind, mitwirken. Wie für alle anderen Mitarbeiter sollte es auch für Manager ein Fixgehalt und einen gewinnabhängigen Anteil geben. Aber um nicht missverstanden zu werden: Manager sollen gut verdienen, wenn sie erfolgreich arbeiten.

Das würde dann wohl auch das Aus für Aktien-Optionen als Bestandteil von Managergehältern bedeuten?

Ich bin ein Anhänger des Stakeholder-Konzepts, das deutlicher auf das Wohl aller in einem Unternehmen - Eigentümer, Mitarbeiter, Kunden - ausgerichtet ist im Gegensatz zum Shareholder-Konzept, das vor allem die Gewinninteressen der Aktienbesitzer im Visier hat. Das Shareholder-Konzept ist zu eng gefasst, berücksichtigt insbesondere die Interessen der Arbeitnehmer nicht hinreichend. Ich halte die Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer für ein wichtiges Korrektiv bei der Neukonzeption der Einkommensverteilung in Richtung mehr Gerechtigkeit.

Der kürzlich verstorbene österreichische Bundeskanzler Fred Sinowatz ging in die Geschichte mit dem Satz ein, dass "alles sehr kompliziert" sei. Ihr Steuersystem von 25 Prozent auf alle Einkommen bei gleichzeitigem Wegfall aller Begünstigungen und Subventionen besticht durch radikale Einfachheit. Die macht aber vielen Menschen Angst - daran sind ja nicht zuletzt Sie selbst im deutschen Wahlkampf 2005 gescheitert.

Der Satz des Kanzlers stimmt. Die Welt wird immer komplizierter, deshalb muss unser Recht wieder einfacher werden. Und einfaches Recht heißt auch verständliches Recht. Jeder muss es verstehen können, jeder muss, wenn er sich damit eingehend beschäftigt hat, selbst überprüfen können, ob das Steuergesetz auf ihn richtig angewendet worden ist. Wir setzen auf Bürger, die sich auch informieren.

Bei Ihnen selbst, im deutschen Wahlkampf 2005, hat das aber nicht funktioniert.

So kann man das nicht sagen. Ich habe überzeugen können, wenn ich persönlich in Vorträgen oder bei Veranstaltungen mit den Menschen in Kontakt treten konnte. Ich hatte aber, um es bildlich auszudrücken, nur das kleine Mikrofon, während der andere (SPD-Kanzler Gerhard Schröder; Anm.) das große hatte, die Medien, das TV.

Dabei gibt es in Deutschland wie auch in Österreich ein duales TV-System mit starken öffentlich-rechtlichen Sendern, doch auch diese konnten keine objektive Information bieten.

Das glaube ich nicht. Die vier Wochen, in denen ich in der Wahlkampfarena stand, waren einfach zu kurz.

Wie würde ein Maßnahmenpaket gegen die rasant steigende Inflation in Ihrem System ausschauen?

Unser System beruht auf einem starken Stabilitätsmodell. Geldwertstabilität ist das wichtigste, weil Inflation immer die sozial Schwachen am stärksten trifft. Deshalb treten wir auch für ein Verschuldungsverbot für den Staat ein. Die Verwendung von Steuergeldern für staatliche Ausgleichsmaßnahmen gegen die Inflation ist der falsche Weg.

Aber die Bürger erwarten von der Politik, dass sie rasch handelt.

Höhere Lohnabschlüsse bei Gehaltsverhandlungen mögen das abfedern können, das ist aber nicht meine Empfehlung, das kann allenfalls als einmalige Aktion funktionieren.

Sie wollen den Bürgern bei Wahlen wieder die Möglichkeit zurückgeben, statt Parteien mit Machtverhandlungen zu beauftragen, selbst wieder die Mächtigen zu bestimmen. Dies soll geschehen, indem Parteien bereits vor der Wahl verbindlich erklären, mit wem sie im Falle einer Mehrheit regieren werden. Warum nicht einfach ein Mehrheitswahlrecht einführen?

Das wäre allenfalls in den 50er oder 60er Jahren möglich gewesen, aber mittlerweile haben wir eine politische Kultur entwickelt, in der Kleinparteien eine ganz wesentliche Rolle spielen. Jetzt einfach das Wahlrecht zu ändern, würde den Eindruck erwecken, als würden sich die beiden Großparteien ein Wahlrecht für den eigenen Machtgewinn maßschneidern wollen. Das wäre kein kluger Beitrag zur Steigerung der politischen Kultur.

Zur PersonPaul Kirchhof, geboren 1943 in Osnabrück, gilt als "Vater" der Idee eines radikal vereinfachten Steuertarifs bei Streichung aller Ausnahmeregelungen. Die Berechnung der Lohn- und Einkommensteuer soll dann auf einem Bierdeckel möglich sein.

Der ehemalige Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht (1987 bis 1999) und Professor an der Universität Heidelberg gehörte als Parteiloser zum Kompetenzteam der CDU/CSU um Kanzlerkandidatin Merkel für die Bundestagswahl 2005 und sollte als Finanzminister dem Kabinett angehören, die Teilnahme an einer großen Koalition lehnte er ab. 2005 erhielt Kirchhof den "Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache". Kirchhof ist katholisch, verheiratet, hat zwei Söhne und zwei Töchter sowie sieben Enkelkinder.

Literaturtipp: Paul Kirchhof. Das Gesetz der Hydra. Gebt den Bürgern ihren Staat zurück. München 2006.