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Verschüttet wie einst in Pompeji

Von Heiner Boberski

Wissen

Sensationsfund an einstiger Westfront führt die Schrecken des Krieges vor Augen.


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Wien. Es geschah am 18. März 1918, im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs. Eine Attacke der Franzosen mit Minenwerfern, höchstwahrscheinlich die Antwort auf einen deutschen Angriff mit hautschädigenden Senfgasgranaten, führte in der Nähe der Stadt Carspach im Elsass drei Explosionen herbei. Diese brachten einen großen Teil des erst 1916 von den Deutschen als Schützengraben angelegten Kilianstollens, rund 150 Meter hinter der vordersten Front, zum Einsturz. 34 deutsche Soldaten wurden verschüttet und fanden den Tod. 13 Leichen wurden bald darauf von Kameraden aus den Trümmern geholt, die Bergung der übrigen 21 unterblieb, da es technische Schwierigkeiten gab - es drohte ein weiterer Einsturz - und die Deutschen am 4. April in Richtung Picardie abrückten. Erst mehr als 92 Jahre später, im Oktober 2010, stieß man im Zuge von Straßenbauarbeiten in fünfeinhalb Meter Tiefe auf Reste eines 125 Meter langen unterirdischen Stollens, und ein Team unter der Leitung von Michael Landolt vom Amt für Archäologie in Sélestat begann mit der Freilegung. Der deutsche Hobbyhistoriker Jürgen Ehret hatte schon vorher die Lage des Kilianstollens mittels alter Karten verortet und wurde von Landolt kontaktiert.

Unter Archäologen hat die Fundstelle im Osten Frankreichs bereits den Spitznamen "Pompeji" erhalten. Denn es gibt Parallelen zu der im Jahr 79 durch einen Ausbruch des Vulkans Vesuv verschütteten süditalienischen Stadt. Deren Schicksal hat der britische Schriftsteller Edward Bulwer-Lytton in einem der bekanntesten Romane des 19. Jahrhunderts, "Die letzten Tage von Pompeji", beschrieben. Wie in Pompeji wurden auch bei Carspach die Skelette von Menschen in genau derselben Position ausgegraben, in der sie einst verstarben. Die meisten Soldaten saßen aufrecht im Schützengraben. Einer wurde in seinem Bett gefunden, einen anderen fand man in der Fötus-Position, nachdem er die Treppen zum Graben hinuntergestürzt war.

Der Archäologe Michael Landolt schildert seine Eindrücke so: "Hier ist es ein bisschen wie in Pompeji. Innerhalb von Sekunden brach alles zusammen und ist bis heute so geblieben. Wir fanden die Leichen in genau der Position vor, in der sie im Moment ihres Todes verweilten. Der Schützengraben war komplett mit Erde befüllt. Objekte aus Metall waren etwas verrostet, Holz und Leder sind in einem guten Zustand und wir haben eine Zeitung von damals gefunden, die man heute noch lesen kann. Wir lassen die Funde momentan in einem Labor reinigen und untersuchen."

Ziege als Milchlieferant

Neben den Leichen der jungen Männer stellten die Wissenschafter auch Gegenstände des täglichen Lebens sicher. Unter riesigen Erdschichten entdeckten sie Stiefel, Helme, Waffen, Weinflaschen, Brillen, Geldbörsen, Pfeifen, Zigarettenetuis und Notizbücher. Man stieß im Graben auch auf die Überreste einer Ziege, die den Soldaten höchstwahrscheinlich als Milchlieferant diente. Den perfekt konservierten Zustand der Fundstücke erklären sich die Archäologen damit, dass diese die ganze lange Zeit über von Luft, Wasser und Licht abgeschnitten waren. Der Schützengraben bot seinerzeit mehr als 500 Mann Unterschlupf und verfügte über 16 Ausgänge. Der als einsturzsicher geltende Stollen verfügte über einen Telegrafen, Öfen, Betten, sanitäre Einrichtungen (Wasser- und Abwasserleitungen) und elektrisches Licht.

Die verstorbenen Soldaten, alle zwischen 20 und 40 Jahren alt, gehörten der 6. Kompanie des 94. Reserve-Infanterie-Regiments und waren namentlich alle bekannt. Unter ihnen sind: der Gefreite Martin Heidrich (20), Harry Bierkamp (22) und Oberleutnant August Hutten (37). Diese Namen standen bereits als Vermisste auf einem Gedenkstein auf dem deutschen Armeefriedhof der französischen Gemeinde Illfurt. Dort sollen die Verstorbenen, die nun der Reihe nach identifiziert werden, auch nach Abschluss der Untersuchungen beerdigt werden, sofern nicht noch lebende Angehörige eine andere Grabstätte wünschen.

Der Fall der deutschen Soldaten ist kein Einzelfall. An der ehemaligen Westfront ist noch von Zehntausenden nicht bekannt, wo genau sie ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.