Vor rund einem Jahr legte die EU-Kommission den Entwurf für eine neue Chemikalienrichtlinie vor. Seitdem tobt ein heftiger Kampf der Lobbys um den umstrittenen Plan. Vor allem die chemische Industrie spricht von unerträglichen Belastungen und bekommt etwa in Deutschland oder Großbritannien Unterstützung von Regierungsseite. Jetzt waren wieder die Umweltgruppen am Zug: Der WWF fand bei einer Untersuchung im Blut von Europas Umwelt- und Gesundheitsministern 55 verschiedene Chemikalien. Die Aktion sollte auch zeigen, dass die langfristige Wirkung vieler Substanzen unbekannt sei.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der WWF argumentiert, dass zwar nur kleine Dosen der Chemikalien gefunden wurden, dass aber die Kombination der verschiedenen Stoffe durchaus giftig sein könnte.
Im Durchschnitt hatte jeder der 13 teilnehmenden Minister 37 chemische Substanzen im Blut. 25 dieser Stoffe fanden sich bei allen Ministern: Ein flammenhemmender Stoff, zwei Pestizide und 22 Polychlorierte Biphenyle (PCB), die giftig wirken können und als Krebsauslöser verdächtig sind. Die Rückstände stammten dabei von feuerhemmenden Möbelbeschichtungen, beschichteten Bratpfannen, fettdichten Pizzaverpackungen, Parfums und Schädlingsbekämpfungsmitteln. Einige der Substanzen sind laut WWF seit Jahrzehnten verboten.
Der Chef der Kampagne, Karl Wagner, sagte, die Chemieindustrie habe kaum Möglichkeiten, zu bestimmen, ob ihre Produkte langfristig schädlich seien.
Erklärtes Ziel dieser WWF-Aktion war natürlich, auf die EU Druck auszuüben. Bis Ende 2004 soll eine Arbeitsgruppe der Kommission eine Machbarkeitsstudie vorlegen, 2005 soll sich das Parlament damit befassen. Der ursprüngliche Entwurf hatte ein ehrgeiziges Ziel: Rund 30.000 Chemikalien sollten innerhalb von elf Jahren in einem einheitlichen System registriert, bewertet und zugelassen werden. REACH ("Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals") löste freilich bei Europas chemischer Industrie, die mit 31 Prozent mehr zur Chemikalien-Weltproduktion beiträgt als die USA, Empörungsstürme aus. Bürokratie, Mangel an Flexibilität, Verlust von Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätzen wurden prognostiziert. Mittlerweile warnen ebenso die Regierungen von Deutschland, Frankreich und Großbritannien vor einer "bürokratischen und unnötig komplizierten" Verordnung.
Und auch der Vorsitzende des Umweltausschusses im Europäischen Parlament, der CDU-Abgeordnete Karl-Heinz Florenz, verspricht den Konzernen Entgegenkommen. Er will die chemischen Stoffe "abgestuft" erfassen lassen. Sofort geprüft sollten demnach nur die 3.000 bis 4.000 gefährlichsten Substanzen werden, für die übrigen Stoffe könne man sich Zeit lassen. "Ich will kein Kochsalz prüfen", betonte der Deutsche. Die EU-Kommission befürchtet hingegen, dass bei einem gestuften Registrierungsverfahren letztlich nicht alle Substanzen überprüft würden.
Die chemische Industrie argumentiert auch immer wieder mit den Kosten, die ihr durch solche Überprüfungen aufgebürdet würden. Darüber gibt es höchst unterschiedliche Schätzungen: Laut Kommission würden nur 0,05 Prozent der jährlichen Verkaufserlöse den Konzernen verloren gehen, Industrie-Studien kommen auf weit höhere Zahlen. Die Kommissionsannahme wird nun allerdings durch eine neue, von US-Experten erstellte Studie unterstützt, die von 0,06 Prozent spricht.
Die zwei Forscher von der Bostoner Tufts University lassen an den Kollegen von Arthur D. Little, beauftragt von der deutschen Industrie, kein gutes Haar: Ihre Studie bringe "unrealistische Resultate, basierend auf zahlreichen Irrtümern und Übertreibungen". Das REACH-Regelwerk würde nicht nur keinen nennenswerten Kostenfaktor darstellen, sondern sogar europäische Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit stärken.
Umweltgruppen wie der WWF weisen darüber hinaus darauf hin, dass gleichzeitig die Kosten für das öffentliche Gesundheitswesen und die negativen Effekte für die Umwelt zurückgehen würden.