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Versöhnung mit der Geschichte

Von Stefan May

Reflexionen

Irmgard Sinner hat im Nationalsozialismus und in der DDR die Fragwürdigkeit des menschlichen Verhaltens kennengelernt. Sie plädiert für Vergeben - aber nicht für Vergessen. Eine Begegnung.


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Energischen Schritts geht eine alte Dame durch die Altstadt von Lübeck, die Stadt des Marzipans und der Buddenbrooks an der deutschen Ostseeküste. Die beiden Arme der Trave umschließen die Altstadt, die aus schmalen Ziegelhäusern besteht, mit akkurat gepflegten Gärtchen dahinter.

Die Frau macht Halt vor einem stattlichen Gebäudekomplex an einer Straßenkreuzung: Im Hochparterre des Wohnhauses für ältere Damen hat Irmgard Sinner ihre Wohnung - eine Frau mit besonders bewegter Vergangenheit.

Die ersten harten Nüsse ihres Lebens hat die 1928 geborene Frau schon in ihrer Jugend zu knacken. Die Familie zieht mit ihrem aus Ostpreußen stammenden Vater Werner Lueben, einem Militärjuristen, an seine Dienstorte mit: Breslau, Königsberg, Torgau. Zum Schluss ist er Generalstabsrichter am Reichskriegsgericht, zuständig auch für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Im Ersten Weltkrieg muss er in Yverdon einen schlimmen Feldzug mitgemacht haben. "Meine Mutter sagte, noch Jahre nach dem Krieg hat er nachts manchmal davon geträumt und hat aufgeschrien", erzählt Irmgard Sinner. "Von daher hatte wohl mein Vater die Überzeugung, dass Desertieren für ihn undenkbar war."

Pazifist vor Gericht

Einer, der erst gar nicht hingehen wollte, wo Krieg ist, war der oberösterreichische Landwirt Franz Jägerstätter. 1943 stehen einander zwei Prinzipien vor Gericht gegenüber: Durchhaltegebot und religiöse Überzeugung. Franz Jägerstätter ist ebenso wie sein Richter Werner Lueben mehrfacher Familienvater, Jägerstätter überzeugter Katholik, Lueben überzeugter Protestant. Dennoch fällt Lueben am 6. Juli 1943 das Todesurteil über ihn.

Im Jahr 2007 spricht die römisch-katholische Kirche Jägerstätter selig. Am 6. Juli 2013 wird vor dem ehemaligen Reichskriegsgericht in Berlin seines 70. Todestags gedacht. In diesem Haus wurden zwischen 1939 und 1945 etwa 1400 Todesurteile ausgesprochen. Das imposante Gebäude im wilhelminischen Stil in Berlin-Charlottenburg zeigt sich inzwischen deutlich verändert: Eine niederländische Investorengruppe hat das Haus zur Hülle für 100 teure Schlosslofts gemacht und vermarktet sie als "schöner mieten am Lietzensee". An jenem heißen Sommertag 2013 steht das Häuflein derer, die zur Gedenkzeremonie an der Straßenecke gekommen sind, in deutlichem Gegensatz zu den knalligen Sonnenschirmen auf den Balkonen der einstigen NS-Militärjustiz.

Als die Feier zu Ende ist, drängt sich eine kleine ältere Dame nach vorne, ein wenig nervös und unbeholfen, und spricht ein paar Sätze. Es ist Irmgard Sinner, die eigens dafür aus Lübeck angereist ist. Sie sagt, dass sie die Tochter jenes Richters ist, der Jägerstätter zum Tod verurteilt hat, und dass sie um Vergebung bitte.

Bis kurz davor hatte sie den Namen Jägerstätter gar nicht gekannt. Sie informiert sich, erfährt, dass Werner Lueben ein paar Monate nach dem Todesurteil über Jägerstätter einem weiteren über drei katholische Priester die Unterschrift verweigert hat. Für ihn war, in der Meinung seiner Tochter, der Punkt des "bis hierher und nicht weiter" erreicht.

Werner Lueben, kommt in der Nacht darauf in seiner Dienstwohnung ums Leben. Er war nie Mitglied der NSDAP gewesen und hatte ihr auch innerlich distanziert gegenüber gestanden. Erst wird offiziell von einem Bombenangriff gesprochen, obwohl es in dieser Nacht gar keinen Alarm gegeben hatte, später von Selbstmord durch Erschießen. Irmgard Sinner ist überzeugt, dass ihr Vater ermordet wurde: "Ich bin in dem Glauben groß geworden, dass mein Vater ein Staatsbegräbnis bekam. Also, die wollten etwas vertuschen."

Stets hatte der Vater vor seinen drei Kindern verborgen gehalten, dass es zu seinem Beruf gehörte, den Tod anderer Menschen anzuordnen. Pflichtgefühl, Gesetzestreue - so hieß die Panzerung des eigenen Gewissens. "Ich kann Ihnen nicht sagen, was im Kopf meines Vaters vorging", sagt die alte Frau. "Ich weiß nur, er ist ein Kind seiner Zeit - und es ist furchtbar, denn ich hatte ein sehr, sehr herzliches Verhältnis zu ihm, und ich liebte meinen Vater eben auch."

Konflikte

Der emotionale Konflikt begleitet Irmgard Sinner ihr Leben lang. Fast drei Stunden lang erzählt sie in ihrer Lübecker Wohnung: assoziativ, sich selbst unterbrechend, und doch das schlüssige Bild einer Frau darstellend, die von zwei Diktaturen geprägt wurde.

In der DDR lernt sie den drei Jahre älteren Goldschmied Gerhard Sinner kennen. Die beiden heiraten, bekommen zwei Töchter und eröffnen eine Goldschmiedewerkstatt in Rostock. Sabine, die ältere Tochter, lernt Goldschmied wie ihr Vater, Christine, die Jüngere, wird Krankenschwester. Die ganze Familie ist in der evangelischen Kirche in Rostock aktiv.

Drei Mal in der Woche öffnen sie das Geschäft, die Leute stehen Schlange. "Aber dann habe ich zu meinem Mann gesagt: Hör endlich auf, von irgendjemandem was anzukaufen." Das darf er nämlich als Privatperson nicht. Einen Vertrag mit dem Staat zu schließen, lehnt er aber ab.

Im Gefängnis

Im April 1979 wird Gerhard Sinner wegen Steuerhinterziehung aufgrund der Schwarzgeschäfte verhaftet, wenige Monate später auch seine Frau. Irmgard Sinner fürchtet, dass auch Tochter Sabine, die gerade erst Mutter geworden ist, inhaftiert worden sein könnte. Doch eine Zellengenossin weiß Rat. "Die hat aus dem Klo mit einem Zahnputzbecher das Wasser ausgeschöpft, und dann konnte sie durch das Klo telefonieren. Und da sagt sie: Keiner weiter verhaftet worden."

Ab einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren für beide Beschuldigte kann die Familie laut Gesetz enteignet werden. Gerhard Sinner erhält sechs Jahre, seine Frau drei Jahre Freiheitsstrafe - und schon ist es möglich, die beiden zu enteignen. "Das Geschäft war weg und alles, was sie dort gefunden hatten. Und meinem Mann wurde der Beruf abgesprochen. Er durfte nie wieder Goldschmied sein."

Der Wille Gerhard Sinners wird während der Haft in Brandenburg gebrochen. Er ist labiler als seine Frau, die ihre Strafe im berühmten "Roten Ochsen" absitzen muss, einem wuchtigen Bau aus rotem Ziegel, mitten in Halle an der Saale, der Geburtsstadt ihrer Mutter. In jenem Gefängnis, wo einst jene drei katholischen Priester hingerichtet wurden, deren Todesurteil zu unterschreiben sich Werner Lueben geweigert hatte.

Irmgard Sinner beschließt für sich, robust zu bleiben, verlangt, hartnäckig einen Pastor, die Kirchenzeitung und eine Bibel: "Und dann bekam ich so eine alte Bibel, die hatte hauchdünnes Papier. Damit haben sich die Mädchen Zigaretten gedreht, das war nämlich noch besser als der Falz vom "Neuen Deutschland". Sie ist ihren Zellengenossinnen aber nicht böse, dass sie ihr Seiten aus der Bibel reißen und die Parteizeitung unangetastet lassen. 20 sind sie in der Zelle, aufgeteilt auf zehn Stockbetten, dazwischen ein Hocker, Toilette im Zimmer, kein privater Rückzugsraum - monatelang, jahrelang.

"Dann begann ich mit den Mädchen in der Weihnachtszeit Weihnachtslieder zu singen. Singen war verboten", erinnert sie sich. "Und dann haben wir gesungen: ‚Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesu, du mein Leben’. Das haben sie mit einer Inbrunst gesungen, weil das oft Mädchen waren, denen sie die Kinder schon weggenommen haben, weil sie irgendwie gewalttätig oder sonst was waren. Und dann war ich für sie wie eine Großmutter. Sie erzählten: Ja, meine Großmutter hat das auch immer gesungen."

Irmgard Sinner ist inzwischen selbst Großmutter geworden. Doch ihre Ehe funktioniert nicht mehr so wie vor der Haft. Ihr Mann wird in Rente geschickt, das Ehepaar stellt einen Ausreiseantrag. Das erzählen die Sinners einem engen Freund der Familie: Wolfgang Schnur, Rechtsanwalt, insbesondere für die evangelische Kirche. Zur Wendezeit wird er sich im "Demokratischen Aufbruch" engagieren.

Als 1990 seine Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi herauskommt, schlägt das hohe Wellen in Deutschland. Schnur verliert seine Anwaltszulassung. Mandanten-Verrat wird ihm vorgeworfen, die von ihm vertretenen Sinners werden als Beweis angeführt. Doch Irmgard Sinner geht es auch in diesem Fall um Vergebung. Das macht sie in öffentlichen Diskussionen deutlich.

Nach einer solchen kommt eine junge Frau auf sie zu und stellt sich als Tochter von Wolfgang Schnur vor. Sie habe nach der Wende die Verbindung zu ihrem Vater abgebrochen, sagt sie, und sei überrascht, dass Irmgard Sinner so versöhnlich über ihn gesprochen habe. Irmgard Sinner antwortet: "Ihr Vater wusste von mir mehr. Der hätte uns alle wieder ins Gefängnis bringen können. Wissen Sie, ich habe auch Winke von ihm bekommen, also das ist einfach so." Und dann kommt die Tochter wieder in Kontakt mit ihrem Vater.

Tod der Tochter

Dem Ehepaar Sinner wird 1986 die Ausreise in den Westen genehmigt. Es zieht in die Nähe von Lübeck, trennt sich aber bald - auch eine Spätfolge des Gefängnisaufenthalts. Gerhard Sinner stirbt 2002. "Mein Mann ist verbittert rausgekommen. Ich bin ja gleich aktiv geworden, Wohnungstausch, alles. Mein Mann saß nur zu Hause und war verbittert, dass er nicht ’rausgelassen wurde. Ich habe in der Kirche mitgearbeitet, habe eine Ausbildung als Tanzleiterin gemacht."

Und sie wartet auf die ältere Tochter. Denn Sabine, die Goldschmiedin, hatte auch schon lange vor, mit ihrer Familie die DDR zu verlassen. Als es am Nikolaustag 1988 so weit ist, kommen ihr zum Schluss doch Zweifel. Sie verlässt eine vertraute Umgebung im Wissen, von den DDR-Behörden nicht mehr wieder ins Land zurück gelassen zu werden.

"Als sie hier aus dem Zug stieg, merkte ich schon: Das ist nur noch die Hälfte ihrer selbst, ihre Seele ist in Rostock geblieben, bei ihren Freunden." Die junge Familie bekommt eine Wohnung in Hamburg, renoviert übers Wochenende. "Am 3. Mai 1989 sollte ich die Kinder nach Hamburg bringen, und die waren schon ganz high. Und da kommt frühmorgens mein Schwiegersohn an mit Freunden - meine Tochter ist vom 5. Stock gesprungen."

Das war ein halbes Jahr vor dem Mauerfall. Irmgard Sinner kann seit der Grenzöffnung das tun, was ihre Tochter so gerne gemacht hätte, auf das zu warten sie aber keine Kraft und keine Hoffnung mehr hatte: frei reisen. Sie engagiert sich in der Kirche, beim Seniorentanz. Ein bewegtes Leben liegt hinter ihr. Und die Aufarbeitung all dessen? "Hat lange gedauert. Die anderen sagen: Nun guck’ nach vorn. Ich guck’ ja ununterbrochen nach vorn. Ich hab’ ja meine Enkelkinder und alles. Aber das hinter Ihnen, ja, das muss aufgearbeitet werden."

Stefan May, geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien.