Die Programmatiker der Netz- und Medienkultur versichern uns, dass es in der digitalen Zukunft keine "Privacy" mehr geben werde. Aber noch ist es zu früh für Nachrufe auf die Privatheit.
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Michael Seemann ist ein Internet-Prophet. In seinem Blog namens ctrl-verlust.net arbeitet er an der Umwertung althergebrachter Werte. Im Besonderen ist ihm daran gelegen, jene "Kontrolle", die wir Menschen älterer Machart um keinen Preis verlieren wollen, als zwänglerische Altlast abzuschütteln. Er schreibt: "Ich habe mich daran gewöhnt, die Kontrolle zu verlieren, denn das, was ich im Austausch bekomme, ist viel besser. Ich bin zwar nur noch ein Teil von mir, aber das mentale Modell meines Geistes endet schon lange nicht mehr an meinem Bewusstsein. Ich bin heute größer als ich. Ich bin ich und ein gigantischer Resonanzkörper aus verschalteten Gehirnen und Algorithmen."
Im Netz-Nirwana
Ähnelt das nicht einer religiösen Verheißung? Und wenn ja - darf man dann annehmen, das allmächtige Internet spiele im Denken und Empfinden mancher User eine ähnlich sinnstiftende Rolle wie der allmächtige Gott im Gefühlshaushalt religiöser Menschen? Immerhin gibt es den berühmten Satz des anglikanischen Bischofs und Philosophen George Berkeley: "Dasein heißt wahrgenommen werden (esse est percipi)". Der Bischof dachte an Gott als denjenigen, der uns in jeder Phase unseres Lebens beobachtet und beachtet. Für die Netzgläubigen neueren Datums ließe sich der alte Gedanke vielleicht so umformulieren:"Wo ich bin und was ich tu, schaut das world wide web mir zu."Dieses Aufgehen im Überindividuellen scheint, wenn man den Worten des Netz-Exegeten Seeman glaubt, ein tröstliches Gefühl zu sein.
Allerdings: Wer zu Algorithmen und Verschaltungen keine affektive Bindung aufbauen kann oder will, sieht vor allem die Schattenseiten der Digitalisierung. Während Datenschutz und Kontrollmöglichkeit von netzverliebten Nerds lustvoll verabschiedet werden, stören sich misstrauische Betrachter daran, dass es einige wenige Großunternehmen gibt, die das Web als profitables Geschäftsfeld beackern und absolut nicht geneigt sind, dem Geschehen seinen spontanen, ungeplanten Verlauf zu lassen.
Digitale Diktatur
Ein scharfer Kritiker dieser Entwicklung ist der Soziologe Harald Welzer. Er, der sich wissenschaftlich mit dem Faschismus und anderen Formen des Totalitarismus befasst hat, beschrieb kürzlich in einem "Spiegel"-Gespräch die Aktivitäten von Google und anderen Giganten als schleichende Zerstörung der liberalen Demokratie, zu deren Grundlagen die Unterscheidung von privaten und öffentlichen Belangen gehört: "Diktaturen arbeiten immer zuerst an der Abschaffung der Privatheit und des Geheimen und Verborgenen. Denn nur so lassen sich Menschen effektiv kontrollieren. Google und Co. arbeiten auch an der Abschaffung des Privaten. Und sie kontrollieren jetzt schon mehr als das Internet. Sie kontrollieren mehr und mehr unser soziales Leben."
Lust der Verschaltungen, Last der Monopole - im Nachdenken über die digitale Welt zeigt sich ein widersprüchliches Bild: Von den einen wird das Internet als Ausgang des Menschen aus allen Zwängen und Begrenzungen der Individualität gefeiert, von den anderen als endgültiger Absturz in den posthumanen Maschinen-Totalitarismus gefürchtet. Aber die einen wie die anderen sind davon überzeugt, dass der Trend der nächsten Jahre in Richtung "Post-Privacy" geht, sodass die bürgerlich-liberale Gesellschaft mit ihrer prinzipiellen Trennung der öffentlichen und der privaten Sphäre allmählich verschwinden wird.
Rettungsversuche
Aber noch sind wir nicht so weit. Wer das liberale Modell, das zu verschwinden droht, gegen seine Totengräber verteidigen will, kann sich in mehreren philosophisch-weltanschaulichen Abhandlungen Argumente dafür holen. So in der wohlformulierten Streitschrift "Verteidigung des Privaten", in der Wolfgang Sofsky die Rechte des Individuums zu schützen sucht. (Es sollte, nebenbei bemerkt, zu denken geben, dass der Soziologe Sofsky, genau wie sein vorhin zitierter Fachkollege Welzer, ein Experte für Totalitarismus ist. Er hat ein Standardwerk über die innere Organisation der deutschen Konzentrationslager geschrieben. Die Beschäftigung mit diktatorischen Regimen der Vergangenheit mag den Blick für eventuelle Fortschritte trüben, sie sensibilisiert aber für alle totalitären Bedrohungen der Gegenwart und Zukunft.)
Sofsky beschäftigt sich in seinem Buch sowohl mit den diversen Methoden der elektronischen Überwachung, als auch mit der Gier der Menschen nach öffentlicher Präsenz. Für ihn sind das zwei Seiten derselben hässlichen Medaille, denn, so fragt er: "Weshalb soll man sich an der Kamera in der Einkaufspassage stören, wenn man selbst von Schnappschuss zu Schnappschuss eilt und sich vor jeder neuen Kulisse sofort in Positur setzt?"
Man sieht schon, dass Sofskys Kulturkritik weit über das Internet hinausgeht. Er malt in düsteren Farben das Bild einer normierten Gesellschaft, in der für individuelle Nuancen, unbotmäßige Gedanken oder nonkonforme Lebensstile kein Platz mehr ist.
Dennoch zeigt sich in diesem pessimistischen Manifest eine Gegenkraft. Als Garanten der menschlichen Freiheit sieht Sofsky - in liberaler Tradition - nach wie vor die Privatsphäre, die er im strikten Gegensatz zur Öffentlichkeit begreift: "Öffentlichkeit mag dazu dienen, den Herrn zur Beweispflicht zu zwingen und die Opposition zu formieren. Sie soll die Geheimnisse der Macht lüften und ein Streitforum bieten für Angelegenheiten, die alle angehen. Privatheit dagegen ist die Festung des einzelnen. Sie ist ein machtfreies Terrain, das einzig der Regie des Individuums unterliegt." Beim Lesen dieser Passage empfiehlt es sich, den Unterschied zwischen "deskriptiven" und "normativen" Sätzen zu beachten. Dann versteht man, dass Sofsky der Öffentlichkeit "normativ" Aufgaben zuschreibt, die sie erfüllen "mag" oder "soll", während er das Private "deskriptiv" in "Ist"-Sätzen beschreibt, die keine Relativierung zulassen: das Private, so heißt es "ist die Festung des einzelnen".
Allerdings versteckt sich - wie so oft - auch im deskriptiven Gewand dieses Satzes ein normativer Gehalt. Denn Sofsky postuliert hier, was Privatheit im Idealfall sein sollte. Und gerade er zeigt in seiner Streitschrift an vielen Beispielen, dass die wehrhafte Vorstellung von der "Festung des einzelnen" niemals rein verwirklicht worden ist. Immer schon musste das Recht auf Privatheit, so Sofsky "gegen den Zugriff staatlicher Macht ebenso verteidigt werden wie gegen Übergriffe aus der Gesellschaft". Aber weil das immer so war, sind Kämpfer wie Sofsky geübt im Gebrauch ihrer Argumente, sodass sie auch angesichts der aktuellen Bedrohungen nicht verzagen müssen.
Ein Blick zurück
Es ist ja wahr: Der private Bereich war niemals eine völlig geschützte Sphäre. Die Gesellschaft, die Öffentlichkeit, das soziale Umfeld (das sind alles nur unterschiedliche Aspekte derselben Sache) haben seit jeher mächtig in die Freiräume hineinregiert, und sie bedurften dazu keiner Computer oder Smartphones; auch handelte es sich durchaus nicht immer um diktatorische Verhältnisse.
Dazu eine Geschichte aus einer mittelgroßen deutschen Stadt. Dort lebte in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein älterer Herr, der ein bisschen auffällig war. Er war modischer gekleidet als die anderen Honoratioren, sein Haar war mit Pomade gekämmt, sein Rasierwasser hatte eine eigenwilligere Duftnote als ortsübliche Marken.
Dieser Herr, von Beruf Juwelier, war ein Objekt des Klatsches. Man erzählte hinter der berühmten "vorgehaltenen Hand", er sei ein "Süßer" oder ein "Warmer"; manche bezeichneten ihn gar als "Schwulen", was das bösartigste aller Schimpfworte war. Andere bemühten sich um eine nicht-diskriminierende Sprache und sagten wertfrei, der Juwelier sei "homosexuell veranlagt" (die Vorstellung, dass Homo- bzw. Heterosexualität keine Anlagen seien, sondern bloß "Orientierungen", war damals noch nicht verbreitet).
Dennoch reden wir von einem angesehenen Bürger seiner Stadt. Er war witzig und hatte kultivierte Umgangsformen, man kaufte gerne bei ihm und plauderte mit ihm auf der Straße über Unverfängliches. Dass über ihn getratscht wurde, wird er gewusst haben, aber er schwieg dazu.
Weil er aber selbst seine Homosexualität als strikte Privatangelegenheit behandelte, wurde sie auch von denen geduldet, die abschätzige Reden führten, wenn er nicht dabei war. Hätte der Juwelier mit einem Liebhaber in einem Kaffeehaus geschmust, wäre die Toleranz bald am Ende gewesen. Aber eine solch indezente Aktion lag ihm genauso fern wie all seinen Mitmenschen, die ihre Hetero-Liebsten auch nicht in aller Öffentlichkeit abgeküsst haben.
Diese Erinnerung ans 20. Jahrhundert illustriert anschaulich jene fein austarierte Balance von privat und öffentlich, die man als "liberal" bezeichnet. Ihr wichtigster sozialer Träger ist das Bürgertum und ihr spezifisches Merkmal ist die strikte Trennung der Bereiche: Während der Mensch im Privaten weitgehend unbehelligt bleibt, ist er in der Öffentlichkeit an allseitig akzeptierte Verhaltensregeln gebunden. Freilich gehorcht dieses nuancierte Benehmen vor allem den sogenannten "ungeschriebenen Gesetzen", weshalb es seit eh und je zu den Aufgaben der bürgerlichen Erziehung gehört hat, ein sicheres Gespür für die Unterschiede zwischen öffentlichem und privatem Verhalten zu entwickeln.
Allerdings ist dieses liberale Modell von antibürgerlichen Kräften immer in Frage gestellt worden. Manchen Kritikern erschien es als verlogen, weil es dazu verführt, daheim anders zu reden als im Büro. Ebenso wurde der Vorwurf der relativen Unfreiheit erhoben, weil das Ausleben individueller Wünsche zwar erlaubt ist, aber nur in der Enge des privaten Kreises. Diese Kritiken treffen gewiss etwas Richtiges, übersehen aber zugleich die unaufdringlichen Freiheitspotenziale des bürgerlichen Liberalismus.
Politik statt Privatheit
Auch jene "Studentenbewegung", die bis heute mit der Jahreszahl "1968" verbunden wird, polemisierte nicht nur gegen das Privateigentum an den Produktionsmitteln, sondern auch gegen die Differenzierung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Parolen wie "das Private ist politisch" forderten dazu auf, all jene Lebensgewohnheiten, die man bis dahin als Privatangelegenheit angesehen hatte, öffentlich zu überprüfen. Das ging angeblich so weit, dass besonders radikale Wohngemeinschaften oder "Kommunen" die Toilettentüren aushängten, um selbst dieses Refugium der individuellen Intimität dem kollektiven Einblick zu unterwerfen.
Das mag eine boshaft erfundene Anekdote sein - wahr ist jedoch, dass sich seit den späten sechziger Jahren eine weitgehende Politisierung des Alltags vollzogen hat. Insbesondere ist die (Homo)-Sexualität keine Privatangelegenheit mehr, sondern Bestandteil des öffentlichen Diskurses. Wenn heute zärtliche Lesben in einem Wiener Kaffeehaus zur Ordnung gerufen werden, finden sich sofort Tausende zusammen, um öffentlich gegen "Homophobie" zu demonstrieren.
Als Organisationsplattform dieser Demos werden natürlich soziale Medien wie Twitter und Facebook eingesetzt. Aber die Ansicht, dass Küsse unter Liebenden keine Privatsache seien, sondern von höchstem öffentlichen Interesse, entstammt nicht dem Internet. Sie ist eine der Errungenschaften jener Alternativbewegungen, die seit den siebziger Jahren den westeuropäischen politischen Diskurs mitbestimmen: Feministinnen, Grüne, NGOs - kurz all jene, die heute unter dem Überbegriff "Zivilgesellschaft" zusammengefasst werden. Für sie gibt es, überspitzt gesagt, keine privaten Freiräume, oder jedenfalls keine, in denen der Mensch anders reden oder handeln dürfte als im Lichte der medial durchleuchteten Öffentlichkeit. Es ist kein Geheimnis mehr, dass dieser oder jener Politiker schwul, diese oder jene Sportlerin queer ist. (Kritiker wie Sofsky würden jedoch bemängeln, dass es kein Geheimnis mehr sein darf, und würden darin einen totalitären Zug erkennen.)
Dennoch: Das alte Wechselspiel von allseits akzeptierter Konvention und einer gewissen Großzügigkeit im Privaten ist noch nicht ganz ausgestorben. Wer heute das Recht auf Privatheit verteidigt, meint damit in der Regel noch immer jenes alte, liberal-bürgerliche Gesellschaftsmodell, Privateigentum inklusive, das seit Jahrzehnten in der Kritik steht. Es gibt nach wie vor genug Menschen, die der Ansicht sind, Sexualität (oder Religion oder Fleischkonsum oder Fahrradfahren) seien individuelle, private Angelegenheiten, die nicht öffentlich zur Disposition gestellt werden sollten.
Wer diese Vorbehalte gegen das Öffentlich-Werden ureigenster Belange im Internet oder anderswo äußert, muss mit Vorwürfen rechnen. Deshalb behandeln viele Liberale auch ihre Bedenklichkeiten wie Privatgeheimnisse oder garnieren ihre Kritikpunkte mit dem defensiven, leicht genierten Satz "Das darf man ja heute nicht mehr sagen".
Ein vorläufiges Fazit
Man sieht also, die Lage ist unübersichtlich, und das Label "Post-Privacy" beschreibt sie durchaus nicht (oder noch nicht) zutreffend. Eine gute "deskriptive" Darstellung findet sich dagegen in der Abhandlung "Privatheit", die der britische Philosoph Raymond Geuss verfasst hat. Dort steht ein Satz, der hier als Fazit dienen kann: "Ich möchte hier die These vertreten, dass es nicht eine einzige klare Unterscheidung zwischen öffentlich und privat gibt, sondern vielmehr eine Reihe überlappender Gegensätze, und dass der Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten daher nicht die Bedeutung beigemessen werden sollte, die ihr oft zugeschrieben wird." So ungefähr könnte es sich zur Zeit wohl verhalten.
So. Und nachdem der Schreiber dieser Zeilen das alles brav dargelegt hat, schaltet er seinen Laptop aus, dreht sein Handy ab, verlässt sein Büro und verschwindet. Und sein kleiner Akt der Freiheit besteht darin, dass er jedem, der ihn fragt, wohin er geht, in aller Ruhe ins Gesicht sagt: "Ich finde, das geht Sie gar nichts an."
Hermann Schlösser, geboren 1953 in Worms, ist Redakteur des "extra" und Literaturwissenschafter. 2014 erschien das von ihm herausgegebene Lesebuch "Wormser "Fundstücke" (Worms Verlag).
Literatur:
ctrl.-verlust.net
Harald Welzer: "Totalitarismus ohne Uniform", in: "Der Spiegel" 8/2015, S. 76-78.
Wolfgang Sofsky: Verteidigung des Privaten. C.H. Beck Verlag, München 2007.
Raymond Geuss: Privatheit. Eine Genealogie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2002.