Das komplexe Sozialleben einer Gruppe kleiner Raubtiere fasziniert die Experten.
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Berlin. Straßen sind gefährlich. So viel haben die Erdmännchen in der Kalahari-Wüste Südafrikas offensichtlich begriffen. Doch Autos hin oder her: Wenn die kleinen Raubtiere gruppenweise auf Nahrungssuche gehen oder von einem Bau zum anderen wollen, müssen sie manchmal trotzdem über die Fahrbahn. Die dominanten Anführerinnen der Trupps halten sich dabei dezent im Hintergrund: Statt selbst voran zu gehen und sich der Gefahr zu stellen, schicken sie zuerst einen untergeordneten Artgenossen als Testläufer vor. Warum sie dem vierbeinigen Führungspersonal trotzdem keinen reinen Egoismus unterstellen, erläutern Nicolas Perony von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und Simon Townsend von der Universität Zürich im Fachjournal "Plos One".
Der Alltag von Tieren steckt von Natur aus voller riskanter Situationen. Einmal ist ein reißender Fluss zu durchschwimmen, einmal ein steiler Abhang zu überwinden. Und überall lauern gefräßige Feinde. Jede Art hat im Laufe ihrer Evolution ihre eigenen Strategien entwickelt, um mit solchen Gefahren umzugehen. Gesellige Tiere nutzen ihre Artgenossen zum Beispiel oft als lebende Schutzschilde. Wissenschafter haben das zum Beispiel bei Vögeln wie den Rotschenkeln, aber auch bei Winkerkrabben beobachtet. Sobald ein Feind auftaucht, rücken diese Tiere enger an ihre Nachbarn, die Gruppe wird kompakter. Wer von einem Pulk Artgenossen umringt ist, kann schließlich nicht so leicht angegriffen werden. In den Genuss dieses Schutzes kommen allerdings vor allem die Tiere im Zentrum der Gruppe. Ihre Sicherheit geht auf Kosten derer, die sich am Rand aufhalten. Das alles passt sehr gut zu Beobachtungen, die Simon Townsend im Rahmen des "Kalahari Erdmännchen Projekts" im Kuruman River Reservat in Südafrika gemacht hat. In diesem Schutzgebiet gewinnen Wissenschafter schon seit 20 Jahren immer neue Einblicke in den Erdmännchen-Alltag. Und der hat einiges zu bieten. Auch Experten stehen immer wieder fasziniert vor dem komplexen Sozialleben dieser kleinen Raubtiere. Erdmännchen leben in Gruppen mit bis zu 50 Mitgliedern zusammen, die aus einem Elternpaar und dessen Nachwuchs bestehen. Normalerweise pflanzt sich nur dieses eine dominante Paar fort, alle untergeordneten Mitglieder des Clans helfen aber beim Babysitten. Es gibt sogar eine Art Schule für die Jungtiere. Dort steht vor allem das Überwältigen von wehrhaften Beutetieren wie etwa giftigen Skorpionen auf dem Lehrplan. Wer das nicht beherrscht, kann sich schließlich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.
Wechsel der Positionen
Es gibt allerdings auch noch andere Gefahren, die auf unvorsichtige Erdmännchen lauern. Greifvögel zum Beispiel. Oder Schakale. Und in letzter Zeit eben zunehmend auch Autos. So müssen die Tiere im Kuruman River Reservat mit einer vielbefahrenen Straße zurechtkommen, die ihren Lebensraum durchschneidet. Wenn sie diese überqueren wollen, führt das dominante Weibchen seine Gruppe normalerweise bis an den Rand der Fahrbahn. Dort angelangt aber wechseln die Positionen. Beim Überqueren muss ein rangniederes Tier die Spitze des Trupps übernehmen, während die Gruppenchefin relativ ungefährdet in der Mitte läuft.
Diese Art von Chef-Verhalten wirkt zwar egoistisch. Doch das Ganze könnte durchaus im Interesse der Gruppe sein, argumentieren die Forscher. Denn das Wohlergehen einer Erdmännchen-Gesellschaft hängt stark von ihrem Führungspersonal ab. Stirbt das dominante Weibchen, fällt oft die ganze Gruppe auseinander. Da scheinen die Tiere lieber ein weniger wichtiges Gruppenmitglied in Gefahr zu bringen.
Wie aber kommt der Führungswechsel am Straßenrand zustande? Nicolas Perony hat ein einfaches Computermodell entwickelt, mit dem sich diese Vorgänge simulieren lassen. Damit konnten die Forscher unter verschiedenen Randbedingungen das Verhalten von acht virtuellen Erdmännchen vor einer künstlichen Barriere durchspielen und analysieren. Die Ablösung an der Spitze lässt sich demnach relativ leicht erklären: Die Gruppenchefin scheint sich der Gefahr bewusster zu sein und daher eher vor einer Überquerung zurückzuschrecken als ihre Untergebenen.
Anpassen alter Strategien
Ob Erdmännchen dabei tatsächlich den Verkehr als Gefahr erkennen, ist unklar. "Vor allem ist eine Straße ja eine freie Fläche ohne irgendeinen Unterschlupf, in den sie vor Feinden wie Adlern oder Schakalen fliehen könnten", sagt Townsend. Im Laufe ihrer Evolution haben die Tiere offenbar eine angeborene Abneigung gegen solche riskanten Bereiche entwickelt. Und die bezieht sich heutzutage auch auf Straßen.
Das aber ist nach Ansicht der Forscher ein Hoffnungsschimmer. Denn es spricht dafür, dass Tiere ihre alten Strategien bis zu einem gewissen Grad auch auf neue Situationen anwenden können. Sie sind also den vielen neuen Gefahren, mit denen der Mensch sie heutzutage konfrontiert, nicht hilflos ausgeliefert. Tatsächlich scheinen auch andere Arten wie die Schimpansen das Risiko von Straßen erkannt zu haben. Allerdings gehen sie anders damit um als die Erdmännchen. Schimpansen erinnern beim Überqueren der Fahrbahn eher an eine menschliche Kindergartengruppe mit ihren erwachsenen Begleitern: Die Chefs gehen entweder vorweg oder bilden das Schlusslicht, um den Rest des Trupps zu schützen.