Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Das Wuchern des Lügengestrüpps rund um den heiligen Schrein der österreichischen Neutralität ist immer schwerer auszuhalten. Weil nämlich beide Seiten lügen. Die Verteidiger der Neutralität ebenso wie jene, die sie auf der Reise in die Zukunft einfach wie ein Stück herrenloses Gepäck irgendwo stehen lassen und möglichst schnell vergessen wollen.
Kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, kann sich vorstellen, wer derzeit Europa militärisch angreifen könnte. Keinem EU-Staat droht militärische Gefahr von außen. Und eine europäische "Verteidigungsmacht" als Kriegsteilnehmer außerhalb Europas mag sich ein bei Vernunft gebliebener Bewohner dieses Kontinents sowieso nicht vorstellen, obwohl im Wort "Verteidigung" immer öfter auch die Aktionen selbsternannter Ordnungsmächte in anderen Regionen mitschwingen.
Wieder und wieder verweisen jene, die Neutrale so gern als "Trittbrettfahrer der Sicherheit" verunglimpfen, auf Hitler. Der kümmerte sich bekanntlich nicht um die Neutralität Luxemburgs, Belgiens, Hollands, Dänemarks und Norwegens, worauf einer unserer publizistischen Großdenker kürzlich wieder in einer Magazinkolumne hinwies. Merkt der Mann wirklich nicht das Abwegige einer Argumentation, welche die grundlegende Verschiedenheit der historischen Ausgangslagen ignoriert?
Nach Hitlers "Machtergreifung" am 30. Jänner 1933 mussten selbst die langsamsten Denker begreifen, dass sich die Welt auf der schiefen Bahn zum Krieg befand. Die Drohung hing schon seit der von den Weltkriegs-Siegern in Versailles und St. Germain an den Tag gelegten Dummheit in der Luft. Jeder Krieg hat nämlich seine Vorlaufzeit. Sollte es jemals zu einem europäischen Verteidigungsfall kommen, würde er sich erst einmal in einer Phase der Krisen zusammenbrauen. Dann, ja dann, stünde auch Österreichs Neutralität zur Disposition. Aber auch genug Zeit zur Verfügung, um sich auf die neue Lage einzustellen.
Was aber den österreichischen Verteidigungsfall ohne einen gemeinsamen europäischen Verteidigungsfall betrifft, also den Fall, dass Österreich Hilfe von den anderen Europäern braucht: Der ist heute so wahrscheinlich wie ein neuer Krieg zwischen Florenz und Mailand, oder zwischen Italien und Frankreich, oder ein Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark, den wir auch schon hatten und in dem sich ein kriegerischerer Butterweck als der Schreiber dieser Zeilen 1864 das "Düppeler Sturm- und Schanzenkreuz" verdiente. Beweis dafür, dass dies auch endlich verstanden wurde, ist die Empfehlung der Bundesheer-Reformkommission, keine großen Manöver mehr zu veranstalten.
Jene, die den Verteidigern der Neutralität eine "Trittbrett-Mentalität" vorwerfen, wissen natürlich auch, dass die Führer der Serben, Bosnier und Kroaten zwar den Mantel des Schweigens über die begangenen Massenmorde breiten, ansonsten aber ihre Länder so schnell wie möglich EU-reif machen wollen, statt sie noch einmal in Blutbäder zu stürzen. Sie sehen das Chaos, das Amerikas "Krieg gegen den Terrorismus" in Afghanistan und im Irak angerichtet hat und wissen hoffentlich, dass man dem Terrorismus, selbst wenn er auch in Europa zuschlagen sollte, mit militärischen Mitteln nicht beikommt. Es sind hoffentlich keine Wahnsinnigen unter ihnen, die auf militärische Abenteuer außerhalb Europas scharf sind. Eine europäische Konkurrenz zur US-Militärmacht wäre das Letzte, was die Welt braucht.
Warum haben sie es dann gar so eilig mit unserer Beteiligung an Vorbereitungen auf Kriege, die keine Miene machen, sich zusammenzubrauen? Nicht nur der gelernte Österreicher denkt in solchen Fällen an Rüstungsaufträge, Gegengeschäfte und die in im Hintergrund winkenden Karrieren.
Aber auch die Verteidiger der Neutralität schießen auf Pappkameraden. Ihr Getue um den heiligen Schrein ist aus genau dem selben Grund verlogen, aus dem es die Argumentation der Abschaffer ist. Neutrale können sich vielleicht aus Kriegen heraushalten, vielleicht auch nicht. Wo jedoch weit und breit kein Krieg droht, erübrigt sich auch die Neutralität. Sie stört aber auch in keiner Weise, weshalb eine einstige Galionsfigur der Grünen nur alt und komisch ausschaut, wenn sie es plötzlich mit der Abschaffung der Neutralität auffallend eilig hat.
Reden wir doch endlich Klartext! Die Teilnahme an einer wie auch immer organisierten europäischen Militärmacht wäre eine herrliche Gelegenheit, die Ausgaben zur Verteidigung gegen keinen Feind explodieren zu lassen. Produktivkraft zu entsorgen und Konzernen neue Gewinnmöglichkeiten zu eröffnen. Kleine und mittlere Posten für Wähler und hohe Posten für die Protektionskinder der Gewählten zu schaffen. Und endlich, endlich, endlich ginge die so leicht erkennbare totale Nutzlosigkeit österreichischer Abfangjäger in der zwar nicht viel geringeren, aber nicht ganz so leicht erkennbaren Nutzlosigkeit europäischer Abfangjäger auf.
Der Demontagetrupp der österreichischen Neutralität kann das natürlich nicht so offen sagen. Das sieht auch jeder ein. Ihre Verteidiger könnten sich aber mehr Ehrlichkeit leisten und offen aussprechen, dass es bei der ganzen Neutralitätspolitik nicht um Sicherheit geht, sondern, und wie ich meine: längst fast ausschließlich, um Karrieren, Macht und Wirtschaft.
Man liest immer wieder, Bequemlichkeit, Gewohnheit und Feigheit seien die Gründe dafür, dass die Österreicher ihre Neutralität so lieben. Dass viele Österreicher an der Neutralität vielleicht deshalb festhalten, weil sie der letzte Schutzwall gegen eine Ausweitung der "Verteidigungsausgaben" ist und weil sie nicht wollen, dass man ihr Geld auf dem Umweg über den Ankauf von Kriegstechnik, die keinem Menschen nützt und an der besonders üppig verdient wird, in Schrott verwandelt - das liest man nicht. Dass die Österreicher vielleicht sehr genau spüren, worum es wirklich geht - nein, gerade das liest man nicht.