Der liberale deutsche Ökonom Marcel Fratzscher plädiert für mehr Chancengleichheit im Kampf gegen die soziale Ungleichheit.
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"Wiener Zeitung":Der Titel Ihres viel diskutierten Buches heißt "Verteilungskampf". Wie viel soziale Ungleichheit hält eine Gesellschaft aus?
Marcel Fratzscher: In Deutschland und in Österreich waren wir immer extrem stolz auf die Errungenschaften unserer sozialen Marktwirtschaft. Zustände wie in den USA würden wir in Europa nicht akzeptieren. Aber auch in unseren Ländern haben sich mittlerweile immer mehr Menschen entweder aus der Gesellschaft verabschiedet oder revoltieren offen gegen die Ungleichheit, die in den vergangenen Jahrzehnten entstanden ist. Das sieht man in vielen Bereichen, denken Sie an das Thema Flüchtlinge. Da geht es um die Frage, dass viele Deutsche oder Österreicher sagen: "Jetzt kommen all diese Flüchtlinge. Was bedeutet das für unsere Jobs, für unsere Löhne, für die Sozialleistungen? Ist jetzt weniger für uns da? Müssen wir den Gürtel jetzt enger schnallen?" Das ist ein Aspekt des Verteilungskampfes um staatliche Ressourcen, den wir gerade erleben.
Spielt sich dieser Verteilungskampf nur dort ab, wo Menschen auf den umverteilenden Sozialstaat angewiesen sind?
Nein. Die Problematik, dass Menschen das Gefühl haben, sie werden außen vor gelassen, sie haben Nachteile, ist nicht nur ein Thema für die unteren zehn Prozent, sondern für die Mittelschicht. Wir sehen, dass die unteren 40 Prozent praktisch keine nennenswerten Vermögen mehr haben. Und sie verfügen auch nicht über Einkommen, die es erlauben würden, dass Vermögen aufgebaut wird. Das Thema Verteilungskampf ist also nicht ein Thema, das nur die unteren 10 Prozent betrifft, sondern viel weitere Teile der Gesellschaft.
Die Vermögensungleichheit ist in Deutschland und Österreich sehr hoch.
Deutschland und Österreich sind in der Tat die beiden Länder mit der größten Vermögensungleichheit in der gesamten Eurozone. Das hat zumindest in Deutschland viele überrascht. Wir haben in Deutschland ja die Selbstwahrnehmung, dass wir in einer sehr gerechten Markt-Wirtschaft leben.
Was sind die Gründe für den hohen Grad an Vermögenskonzentration?
Es gibt drei Gründe: Erstens: Wir sparen schlecht. Das heißt, wir vermehren das Vermögen, das wir haben, schlecht, weil viele Menschen ihr Geld lieber aufs Sparkonto legen, als in Aktien oder Immobilien zu investieren. Zweitens: Die Gehaltsschere ist in den vergangenen Jahrzehnten weiter aufgegangen. Die unteren 50 Prozent der Einkommensbezieher haben heute geringere Reallöhne als vor 15 Jahren. Drittens: Fehlende soziale Durchlässigkeit, fehlende Aufstiegschancen. Wenn Menschen aus sozial schwachen, bildungsfernen Familien auch sozial schwach und bildungsfern bleiben, dann verfestigt sich vorhandene Ungleichheit weiter. Es heißt immer häufiger: Arm bleibt Arm und Reich bleibt Reich.
Was tun?
Ich habe in meinem Buch "Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird" fünf Bereiche aufgezählt, in denen die Politik handeln muss. Der erste ist Bildungspolitik. Wir brauchen massiv höhere Investitionen in frühkindliche Bildung, hier werden die größten Weichenstellungen gesetzt, hier sind die Nachteile für Kinder aus bildungsfernen Familien besonders groß. Wir müssen zudem falsche Anreize wegnehmen, denn wir haben ja in Deutschland das Betreuungsgeld, wo man Eltern Geld bezahlt, damit sie ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken. Das ist natürlich fatal. Und: Wir brauchen Ganztagsschulen. Hier stehen Deutschland und Österreich übrigens sehr isoliert, fast in allen Industrieländern sind Ganztagsschulen Usus. Plus: Wir brauchen auch eine höhere Durchlässigkeit des Schulsystems. Wir dürfen nicht zulassen, dass ein Kind, das aus sozial schwächeren Schichten stammt, das vielleicht etwas länger braucht, um seine Potenziale zu entwickeln, durch die Lücken rutscht. Ein weiterer Punkt: mehr Steuergerechtigkeit. Einkommen aus Kapital werden mit 25 Prozent besteuert, Einkommen aus Arbeit mit bis zu 45 Prozent.
Wie stark hat die Unzufriedenheit breiter Gesellschaftsschichten - der Erfolg von Donald Trump in den USA, Marine LePen in Frankreich, der AfD in Deutschland oder der FPÖ in Österreich sind Signale der Unzufriedenheit - mit der gestiegenen sozialen Ungleichheit zu tun?
Da gibt es einen 1:1-Zusammenhang. Es geht in meinem Buch ja vor allem um das Thema Chancengleichheit. Wann sind Menschen unzufrieden und frustriert? Wenn sie das Gefühl haben, sie sind abhängig vom Staat und wenn sie das Gefühl haben, ihnen fehlt die Freiheit, etwas aus ihrem Leben zu machen, die Freiheit, ihre Talente zu entwickeln.
Welche Lösung schlagen Sie vor?
Ich sage: Ungleichheit ist ein Problem. Ich sage aber auch: Dieses Problem wird nicht durch mehr Umverteilung gelöst. Das hat sich in den letzten drei Jahrzehnten gezeigt. Wir werden nie fehlende Chancengleichheit durch mehr Umverteilung ausgleichen können.
Wo sehen Sie sich in der Ungleichheitsdebatte zwischen jenen, die sagen, soziale Ungleichheit ist ja gar kein Problem, und Linken?
Ich glaube, dass ich in der Mitte sitze. In der Mitte zwischen jenen, die sagen, es gibt überhaupt kein Ungleichheitsproblem in Deutschland, und dem linken Camp wie Joseph Stiglitz oder Thomas Piketty, die sagen, wir müssen mal richtig bei denen da oben zulangen und die da rufen: "Noch mehr Staat! Noch mehr Umverteilung!"
Warum ist Ungleichheit aus Sicht eines Ökonomen schädlich?
Weil Potenziale nicht genützt werden. Wenn ein Mensch seine Fähigkeiten und Talente nicht einbringen kann, dann ist das nicht nur ein Problem für diese Menschen, sondern für die gesamte Volkswirtschaft. Meine Kernbotschaft lautet: Es gibt ein gemeinsames Interesse aller politischen Kräfte, nämlich mehr Chancengleichheit zu schaffen.
Marcel Fratzscher ist Präsident des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). In seinem jüngsten Buch "Verteilungskampf" benennt er die Ursachen der zunehmenden Ungleichheit in Deutschland. Er war Gast bei der liberalen Denkfabrik "Agenda Austria" in Wien.