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"Verweis auf die Begabung ist Unfug"

Von Michael Schmölzer

Politik
Gesamtschule als demokratiepolitisches Muss: Soziologin Beate Krais. Foto: Schmölzer

Wissenschafterin der TU Darmstadt ist für Ganztagsschule. | "Finnland war früher Schlusslicht." | "Wiener Zeitung":Die Veröffentlichung der letzten Pisa-Studie hat in Österreich eine hitzige Debatte in Gang gesetzt. Warum haben Österreich und Deutschland so schlecht und Finnland so gut abgeschnitten?


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Beate Krais: In beiden Ländern wird der Schüler kaum als ganze Person angesprochen. Deutschland und Österreich haben einen Erziehungsauftrag kaum akzeptiert, vor allem im Gymnasium nicht. In Deutschland ist derzeit eine heftige Debatte im Gange nach dem Motto: Wir sollen die Kinder unterrichten aber doch nicht erziehen! Das ist eine eigentümliche Vorstellung davon, wie Menschen lernen.

In Österreich meinen viele, die Existenz einer flächendeckenden gemeinsamen Schule für alle 10- bis 14-Jährigen wäre der Schlüssel zum finnischen Erfolg.

Finnland hatte vor 15 bis 20 Jahren sehr schlechte Ergebnisse in den internationalen Vergleichsstudien. Die haben vor allem je nach sozialer Herkunft sehr unterschiedliche Ergebnisse gehabt. Die Finnen haben dann gesagt, wir sind so wenige, wir können es uns gar nicht leisten, einen Schüler nicht optimal zu fördern. Dann haben sie ihr Schulsystem von Grund auf geändert.

Das heißt, die Finnen hatten ursprünglich ein Schulsystem wie Österreich, mit einer frühen Trennung in Haupt- und Mittelschule?

Sehr richtig. Und das zeigt: Wenn man will, kann man offensichtlich sehr viel verändern. Was man aus vielen Untersuchungen weiß, ist, dass Kinder von anderen Kindern lernen. Wenn viele gute Schüler in der Klasse sind, dann ziehen diese die anderen Schüler mit. Es ist also genau umgekehrt wie die konservativen Ideologen behaupten, dass die schlechten Schüler die guten nach unten ziehen.

Eines der Hauptargumente der Gegner einer gemeinsamen Mittelstufe ist, dass man einen "Einheitsbrei" schaffe. Stimmt das nicht?

Wichtig ist, dass die Lehrer lernen, differenziert zu unterrichten. Man muss auf einzelne Schülerinnen und Schüler eingehen.

Wer profitiert ihrer Ansicht nach eigentlich von dem Schulsystem, so wie es bei uns existiert: Halbtagsschule und frü he Trennung in Hauptschule und Mittelschule? Da sind die Deutschen und Österreicher doch international gesehen allein auf weiter Flur?

Ein Interesse daran haben ganz klar die privilegierten Schichten, vor allem die bildungsbürgerlichen Schichten, die vom Einkommen her nicht so hoch liegen, dass sie sagen können, ich steck mein Kind in ein englisches Internat, das jedes Jahr 50.000 Pfund kostet. Es profitieren die, die das öffentliche deutsche Gymnasium als ihre Schule betrachten. Für die ist es wichtig, dass sie diesen Zugang kontrollieren und dass der für ihre Kinder sicher bleibt. Denn den Zugang öffnen heißt, es kommen mehr rein, die für attraktive Jobs in Frage kommen.

Ein großer Teil der Bevölkerung wird demnach durch das bestehende Schulsystem benachteiligt. Laut Umfrage ist aber die Mehrheit der Österreicher für eine Beibehaltung des differenzierten Systems. Wie kann das sein?

Viele befürchten, ihre Kinder würden im Gymnasium untergehen. Da müsste es heißen, wenn das Kind nicht mitzieht, dann bügelt die Schule das aus, nicht die Eltern. Das gegenwärtige System baut auf einer Arbeitsteilung zwischen Eltern und Schule auf, wo die Eltern dafür sorgen müssen, dass die Kinder die Aufgaben machen. Wo die Eltern dafür sorgen müssen, dass irgendwelche Schwächen ausgebügelt werden. Das bekommen nicht alle Eltern hin.

Wie sieht es eigentlich mit der Begabung aus? Es heißt doch immer, die Begabteren kommen ins Gymnasium, die weniger Begabten eben in die Hauptschule.

Der Begriff Begabung ist Unfug, da weiß keiner, was das sein soll. Was wir wissen ist, dass Menschen ungeheuer plastisch sind und viel lernen können. Und in anderen Ländern, auch ökonomisch schwächeren, wird sehr viel mehr gelernt, wenn man sich darum kümmert.

Sie glauben also nichtdaran, dass manche von Natur aus fähiger als andere sind?

Ich stell mir immer vor, der Mozart wäre in eine arme Bauernfamilie geboren worden. Und ich vermute, er hätte vielleicht schön im Kirchenchor gesungen, in seinem Dorf. Die Kinder in Finnland sind im Schnitt genau so dumm oder klug wie in Österreich. Es gibt keinen Grund zu glauben, die wären von Natur mit sehr viel mehr Begabung ausgestattet. Sie haben einfach ein besseres Kompetenzniveau, weil mehr für Bildung getan wird.