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Verwilderte Viren: Polio könnte erneut ausbrechen

Von Niko Deussen

Wissen

Kinderlähmung war der nächste Kandidat. Bis 2005 sollte die Krankheit, wie schon 1979 die Pocken, ausgerottet sein. Doch in der Karibik tauchte die Gefahr erneut auf - als Mutation des Impfstoffs. Vor zwei Jahren kam es auf Haiti zu einem Ausbruch von Poliomyelitis (Polio), der spinalen Kinderlähmung. Die Virusinfektion raffte zwei Kinder dahin, 19 weitere blieben gelähmt. Die Behörden waren erschrocken. Denn seit fast zwei Jahrzehnten hatte sich die Krankheit auf der Antillen-Insel nicht mehr gezeigt.


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Alarmierend war dann aber, was der Virologe Olen Kew von Nationalen Zentrum für Infektionskrankheiten in Atlanta, US-Bundesstaat Georgia, kürzlich herausfand. Bei der Gen-Analyse erwiesen sich alle Krankheitskeime als Abkömmlinge entschärfter Viren, die als Impfserum eingesetzt wurden.

Schlimmer jedoch: in der Erbsubstanz fanden sich poliofremde Gene.n Erste Schutzimpfungen gegen die Kinderlähmung gab es 1955. Noch wenige Jahre zuvor waren bei einer verheerenden Polio-Epidemie weltweit Zehntausende von Menschen erkrankt und Tausende gelähmt zurückgeblieben. Zum Einsatz kam ein Impfstoff aus abgetöteten und daher harmlosen Polioviren, den der amerikanische Arzt Jonas Salk entwickelt hatte.

Das Serum wird in den Oberarm gespritzt, und das Immunsystem regiert auf die fremden Eiweiße. Es bildet sich ein dauerhafter Schutzschild. Der Körper wird immun gegen Polio. Wenig später schlug der US-Virologe Albert Sabin eine Immunisierung mit lebenden Erregern vor, in denen die gefährlichen Gene unschädlich gemacht sind. Die Schutzwirkung ist - verglichen mit den abgetöteten Viren - bedeutend besser und wesentlich billiger.

Diese Lebend-Impfung setzte sich durch. Die Immunisierung ist - selbst unter schwierigen hygienischen Bedingungen - schnell und einfach durchführbar und eignet sich daher hervorragend für den Masseneinsatz. Anfang der 60er Jahre starteten in vielen Ländern Polio-Kampagnen unter dem Motto "Schluckimpfung ist süß": das Serum wurde auf Zuckerwürfel geträufelt.

Sehr selten entwickeln die abgeschwächten Viren erneut ihr krankmachendes Potenzial. Die stillgelegten Gene werden, möglicherweise durch zufällige Mutationen, wieder angeschaltet. "Das ist kaum erstaunlich", erläutert Olen Kew, "denn das Poliovirus gehört mit zu denen, die sich am schnellsten vermehren." Dann ruft das Serum gerade die Krankheit hervor, die es abwehren soll. In den USA beispielsweise treten jedes Jahr 10 bis 15 solcher Fälle von "Impf-Polio" auf.

Auf Haiti lag der Fall anders. Zwar waren die untersuchten Mikroben, wie Kew und seine Crew entdeckten, Mutationen aus einer Schluckimpfung. Doch auf ihrem Weg von Mensch zu Mensch, dem einzigen Wirtsorganismus für das Virus, hatten die Krankheitskeime Anleihen bei nahen Verwandten gemacht. Die Forscher fanden in dem neuen Virustyp Gene, die sonst nicht in der Erbsubstanz des Erregers vorkommen. Das neue Genmaterial stammt von so genannten Enteroviren, die ebenso wie die Poliokeime den menschlichen Darm infizieren.

Impfschutz hat Lücken

Die mutierten Mikroben wären allerdings chancenlos geblieben, wäre der Impfschutz in der Bevölkerung ausreichend gewesen. Denn selbst die neuen Virusvarianten können die Immunisierung nicht durchbrechen. "Auf Haiti wurde der Prozess der Rückverwandlung nicht durch eine Immun-Wand abgeblockt", warnt Kew. Die Gesundheitsämter der karibischen Insel räumten ein, dass in einigen Regionen bis zu zwanzig Prozent der Kinder nicht geimpft waren.

Haiti ist kein Einzelfall. Zwei weitere, durch mutierte Serum-Viren ausgelöste Krankheitsausbrüche wurden in Ägypten und auf den Philippinen registriert. Schlechte Nachrichten kommen auch vom Nationalen Institut für Infektionskrankheiten in Tokio. Der Virologe Hiromu Yoshida suchte in Flüssen und Abwässern Zentraljapans nach dem Kinderlähmungsvirus. Insgesamt 29 Mal wurde er fündig. Die entdeckten Virustypen, vermutet der japanische Forscher, stammen sämtlich von einem Lebendimpfstoff ab. Mehr als die Hälfte der Varianten wies zudem Veränderungen in der Genstruktur auf.

Gefahr bei Fernreisen

In vielen europäischen Ländern wie etwa Deutschland und Österreich ist die Möglichkeit solcher Viren-Verwilderungen inzwischen ausgeschlossen, da die vorbeugende Polio-Impfung nur noch mit totem Material durchgeführt. Das ist zwar teurer, aber auch sicherer.

Besorgt sind die Ärzte allerdings über eine nachlassende Impfbereitschaft. So fand etwa das Berliner Robert-Koch-Institut vor zwei Jahren heraus, dass von den vier Millionen Deutschen, die jedes Jahr in ferne Lande reisen, nur noch 51 Prozent gegen Polio geimpft waren. Die Mediziner befürchten, dass durch neue Virusvarianten die Krankheit auch wieder in den erst seit einigen Jahren poliofreien Industrieländern aufflammen könnte.

Anlässlich einer Virologen-Tagung mahnte der New Yorker Virenspezialist Eckard Wimmer: "Nur wenn die Menschen geimpft sind, kann sich das Polio-Virus, das nur den menschlichen Wirt kennt, nicht vermehren und zum Verschwinden gebracht werden."