Europäische Wahrnehmung von Verteilungsgleichheit deckt sich nicht mit tatsächlichen Zahlen.
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Köln/Wien. Vermögen ist nicht so ungleich verteilt, wie die Europäer glauben. Zu diesem Schluss kommt zumindest eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln (IW). Dieser zufolge nehmen die meisten Europäer die Wohlstandsverteilung als Pyramide wahr: unten eine große Zahl an Menschen, die in Armut oder Armutsgefährdung leben, eine etwas kleinere Mittelschicht und an der Spitze eine geringe Anzahl an überdurchschnittlich reichen Menschen. Tatsächlich, so das IW, würden aber viele die Größe der Mittelschicht unterschätzen. So vermuten etwa die Österreicher, dass 22,9 Prozent der Bevölkerung ihres Landes zur untersten Einkommensschicht gehören. Tatsächlich sind es aber laut IW-Angaben nur 11,6 Prozent, die unter 900 Euro monatlich verdienen. Andere EU-Länder, darunter Deutschland und Frankreich, nehmen die Situation ähnlich wahr.
Die Unterschiede zwischen tatsächlicher Einkommensverteilung und deren Wahrnehmung erklären sich für Rudolf Hickel, Forschungsleiter für Wirtschaft und Finanzen am Institut für Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen, vor allem aus intensiven öffentlichen Debatten etwa über die Explosion des Niedriglohnsektors ab 2004. Er sieht allerdings einen methodischen Nachteil der IW-Studie: "Der (von den Menschen) erwartete, als bedrohlich empfundene, Abstieg in der Einkommenshierarchie wird systematisch unterschätzt. Das Bedrohungspotenzial spielt bei der subjektiven Wahrnehmung eine große Rolle." Hier, so Hickel, versage die Politik zweifach: "Über die Tatsachen, vor allem über ein mögliches Absteigen, wird bewusst nicht informiert." Würde hier die Politik präventiv aktiv werden, würden Wahrnehmung und objektive Lage sich eher decken, so Hickel.
Hinsichtlich des wirtschaftlichen Gerechtigkeitsempfindens gibt es auch ein drastisches Gegenbeispiel zu Europa: Die USA tendieren laut IW-Studie dazu, die Armut in ihrem Land zu unterschätzen. So befinden sich bei der tatsächlichen Verteilung die meisten Amerikaner in der untersten Einkommensschicht, jedoch sorgen "gefühlte Aufstiegschancen", ein Überbleibsel des Amerikanischen Traums, dafür, dass die Menschen sich reicher fühlen. Dies weist darauf hin, dass es noch andere Umstände gibt, die beim Gerechtigkeitsempfinden eine Rolle spielen.
Mitbestimmung ist ein Faktor
So hält etwa Sonja Schneeweiss, Europa-Sprecherin beim Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen, Mitbestimmungsmöglichkeiten und Teilhabe an der Gesellschaft für "mindestens genauso wichtig" wie die Einkommensverteilung. Allerdings sei diese vom wirtschaftlichen Erfolg nicht leicht trennbar: "Die Teilhabe hängt meist mit dem Einkommen stark zusammen, stärker, als wir glauben. Mit Mitbestimmungsmöglichkeiten kann ich mir gut vorstellen, dass man sich - auch wirtschaftlich - weniger benachteiligt fühlt", so Schneeweiss. Hinzu käme, dass das Wohlstandsempfinden der meisten Menschen vom Vergleich mit anderen abhänge. "Auf jeden Fall ist es sehr zu begrüßen, wenn die tatsächliche und gefühlte Einkommensverteilung in Europa verstärkt diskutiert wird, eine wichtige Voraussetzung, um Armut in Europa zu bekämpfen und die Verteilung einen Schritt gerechter zu machen", sagt Schneeweiss, die vermutet, dass das Studienergebnis mancher politischen Gruppierung nicht ungelegen kommt.
Ähnlich sieht das Dierk Hirschel, Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Deutschland. Für ihn ist die in der Studie thematisierte Wahrnehmungsverzerrung darauf zurückzuführen, dass die Befragten bei ihrer Antwort keinen statischen Zeitpunkt im Kopf haben, sondern ihre wirtschaftliche Situation anhand von Entwicklungen der letzten Jahre beurteilen. "Abwärtsmobilität und Unsicherheit haben zugenommen und der Zugang zu öffentlichen Gütern ist eingeschränkt und teurer geworden", sagt Hirschel, der darauf hinweist, dass in den letzten Jahren in keinem OECD-Land die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung so stark zugenommen hat wie in Deutschland. Ausschlaggebend für das Wohlstandsempfinden ist für ihn genau diese Abwärtsmobilität.
Armut dennoch weit verbreitet
Er kritisiert auch die Signalwirkung: "Die Studie wurde von einem arbeitgebernahen Institut gesponsert und vermittelt, dass es gar nicht so ungerecht zugeht und dass die Leute Flausen im Kopf haben. Daraus folgert ein solches Institut, dass es keinen sozialpolitischen Handlungsbedarf gibt. Das sehen wir als Gewerkschaft natürlich grundlegend anders." Dem schließt sich Erich Fenninger, Bundesgeschäftsführer der Österreichischen Volkshilfe, an. Es gehe außerdem nicht nur um Einkommen, sondern auch um anderes Vermögen: "Aus unserer Sicht sind die tatsächlichen Fakten, dass vor allem die Vermögen extrem ungleich verteilt sind und es sowohl in Deutschland als auch in Österreich Armutslagen gibt, die sich viele reiche Menschen gar nicht vorstellen können."