Eine Verschiebung des Brexit stellt die EU vor ein Dilemma. Die Frage, welche Frist London gewährt werden sollte, sorgte beim EU-Gipfel für heftige Debatten.
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Brüssel. Hinter den bedachten Formulierungen lugte der Unmut hervor. Die Situation erscheine "etwas chaotisch", befand etwa der irische Premierminister Leo Varadkar. Sein luxemburgischer Amtskollege Xavier Bettel ortete eine Suche "nach dem Notausgang statt nach einer Tür". Doch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz räumte ein: Eine Verschiebung der Trennung sei besser als ein Ausscheiden ohne Abkommen. Und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel plädierte dafür, "behutsam" vorzugehen.
Dass die britische Premierministerin Theresa May um eine Verzögerung der Frist für den EU-Austritt des Königreichs bis 30. Juni ansuchen würde, hatte sich zwar schon in den Tagen zuvor abgezeichnet. Dennoch strapaziert dies die Geduld der verbleibenden 27 EU-Staaten, die dem Antrag alle zustimmen müssen. Es stellt sie ebenso vor neue Herausforderungen. Damit überschattete der Brexit erneut ein EU-Gipfeltreffen, bei dem die Staats- und Regierungschefs auch andere Themen zu besprechen haben.
Doch waren die geplanten Debatten um die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zu China, um die europäische Industriepolitik und das Wettbewerbsrecht, um Klimawandel und Desinformation zunächst einmal in den Hintergrund gerückt, als die Spitzenpolitiker am Donnerstag zu ihrer regulären Zusammenkunft in Brüssel eintrafen. Brexit war der erste Tagesordnungspunkt, May erklärte ihre Position, bevor ihre Amtskollegen dann ohne sie berieten. Dass diese Debatten bei einem Sondertreffen in der kommenden Woche fortgesetzt werden, ist nicht ausgeschlossen.
Am Donnerstag zogen sie sich unerwartet in die Länge. Mehrere mögliche Fristen standen im Raum. Frankreich etwa soll darauf beharrt haben, den Zeitdruck zu erhöhen und den 7. Mai als Austrittsdatum anzupeilen. In einem Entwurf für das Schlussdokument des Gipfels war wiederum vom 22. Mai die Rede – was den Vorschlägen der EU-Kommission entsprechen würde. Wieder andere plädierten dafür, May entgegenzukommen und das Juni-Datum zu akzeptieren.
Verlängerung mit Bedingungen
Die Verlängerung war aber auch an Bedingungen geknüpft. Eine davon war, dass das Unterhaus in London das Trennungsabkommen, das es bereits zwei Mal abgelehnt hatte, doch noch annimmt.
Eine Verschiebung des ursprünglich für 29. März angesetzten Brexit stellt die EU auf jeden Fall vor ein Dilemma, vor allem bei einer Verzögerung, die über Ende Mai hinausgeht. Da findet nämlich die EU-Wahl statt. Das EU-Parlament hat sich bereits auf ein Ausscheiden der Briten vorbereitet und entsprechende Entscheidungen getroffen: Die Zahl der Mandate sinkt von derzeit 751 auf 705. Die Verteilung der Sitze wird angepasst. Österreich beispielsweise erhält ein Mandat mehr.
Das alles wäre allerdings hinfällig, wenn Großbritannien am EU-Votum teilnehmen und weiterhin im Abgeordnetenhaus vertreten sein muss, weil es erst Monate später aus der Union austritt. Die Organisation des Urnengangs würde nicht nur London in die Bredouille bringen, sondern auch die eine oder andere Hauptstadt, in der bereits von den neuen Regeln – ohne britische Beteiligung – ausgegangen wird.
Daher meinte Kanzler Kurz: "Es wäre absurd, wenn ein Land an der Wahl teilnimmt und gleichzeitig die Europäische Union verlassen möchte." Ähnlich sehen das etliche Staats- und Regierungschefs. May ist da keine Ausnahme: Sie betonte, keineswegs an einer Beteiligung am EU-Urnengang interessiert zu sein.
Es geht aber nicht nur um die Entsendung von Mandataren nach Brüssel und Straßburg. Denn wenige Monate nach dem Votum über das künftige EU-Parlament, im Herbst, endet die Amtszeit der aktuellen EU-Kommission. Ebenso gilt es, einen neuen EU-Ratspräsidenten zu küren, da Donald Tusk abgelöst wird.
Und die Besetzung der EU-Spitzenposten ist wie ein komplexes Puzzle, bei dessen Zusammenstellung die Interessen der Länder und der Parteienfamilien ebenso auszutarieren sind wie politische Macht- und Wahlverhältnisse. Mit Großbritannien am Verhandlungstisch würde sich das nicht unbedingt leichter gestalten.
Dasselbe gilt für die Finanzgespräche über das gemeinsame EU-Budget. Auch die sind jedes Mal ein mühsames Ringen zwischen den EU-Institutionen und den einzelnen Mitgliedstaaten. Sie müssen aber schon bald ernsthaft beginnen, denn der derzeitige langjährige Finanzplan läuft bis 2020.
Mitgliedschaft ohne Stimme?
Die Vorstellung, dass London bei all dem Mitsprache hätte, gefällt den wenigsten. Eine Möglichkeit wäre, dem Königreich bei der Gewährung einer Brexit-Verschiebung die Zusicherung abzunehmen, dass sich Großbritannien der Stimme enthält – selbst wenn es formell noch Teil der Gemeinschaft ist.
Einen harten Brexit ohne Vertrag wünschen sich beide Seiten hingegen nicht – auch wenn May ihn nicht ausschließt. Schaden wäre dabei nicht nur für die Wirtschaft auf der Insel und auf dem Kontinent zu befürchten. Auch Bürger bekämen die Auswirkungen zu spüren: Sie müssten sich etwa auf Einkommenseinbußen einstellen. Eines der am meisten betroffenen Länder wäre Deutschland, wie eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt. Die Deutschen hätten einen Wohlstandsverlust von 115 Euro pro Kopf jährlich. Die Österreicher würden 83 Euro verlieren