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Videobeweis mit Schönheitsfehlern

Von Christian Mayr

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Die neue Technik hat die niedrigen Erwartungen beim WM-Härtetest übererfüllt - im Alltag lässt sich dieses Niveau aber schwer halten.


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Nach 62 von 64 absolvierten Spielen kursieren in den diversen Medien bereits die Tops- und Flops-Listen dieser Fußball-WM. Dabei liegt der Videobeweis, den man aufgrund diverser Pannen vor den Spielen bestenfalls im neutralen Feld erwartet hätte, konstant im Plus-Bereich. Manch überschwängliche oder gar geschönte Bilanz - die Fifa sprach nach der Gruppenphase gar von 99,3Prozent korrekten Entscheidungen - erfordert freilich einen Widerspruch. So hat der Weltfußballverband für diese Premiere auf höchster Bühne alles in die Schlacht geworfen, was zum Gelingen nötig war - außer den Dutzenden zur Aufklärung nötigen Kameras und den de facto vollautomatischen Kalibrierungslinien für knappe Abseitsstellungen kamen zusätzlich zu den vier Unparteiischen auf dem Platz gleich weitere vier im VAR-Room (Video Assistent Referee) hinzu. Mit dieser geballten Ladung an erfahrenen Schiedsrichtern gelang es tatsächlich, die Mehrzahl der Entscheidungen positiv aufzulösen. Daher mag dieses Hilfsmittel bei großen Turnieren beziehungsweise in der Champions League (Uefa-Boss Aleksander Čeferin hat bereits seinen Widerstand aufgegeben) funktionieren, doch im Liga-Alltag treten bei weit weniger Technik sowie weniger und unerfahreneren Referees unweigerlich die Probleme auf, die wir in Deutschland kennengelernt haben. Und für die heimische Bundesliga mag man sich gar nicht ausmalen, was für ein Chaos der Videobeweis anrichten könnte.

Denn der Technik- und Personalaufwand in Russland hat erst möglich gemacht, dass die Kommunikation Richtung Zuschauer besser funktioniert und das ganze Prozedere rasch und störungsfrei abgewickelt werden kann. Und dass jeder Schiedsrichter nicht blindlings eine Entscheidung von außen umgesetzt, sondern sich vorher am Schirm selbst vergewissert hat (und in manchen Fällen bei seiner Entscheidung geblieben ist), hat wesentlich zur Akzeptanz beigetragen. Ja, der Videobeweis sorgte vor allem in der Vorrunde für zusätzliche Spannungsmomente, weil in der Tat oft unklar war, wie nun zu entscheiden wäre. Am meisten wurde freilich darüber diskutiert, warum er in vielen Fällen nicht eingesetzt wurde, obwohl recht eindeutig Elfmeterfouls verübt wurden. So hätte Brasilien im Viertelfinale gegen Belgien zweifelsohne einen Penalty zugesprochen bekommen müssen, wie die Serben im Vorrundenduell mit der Schweiz. Zugleich spaltet die Handspiel-Frage immer noch das Schiedsrichterwesen: Wenn endlich außer Streit stünde, dass kein Pfiff zu erfolgen hat, wenn Spieler im Zweikampf (bei geschlossenen Augen!) den Ball aus kurzer Distanz an die Hand bekommen, wären unter anderem Dänemark (vs. Australien) und Ägypten (vs. Saudi-Arabien) nicht bestraft worden. Unbestritten ist indes, dass der Videobeweis die WM-Elfer-Anzahl (27) in neue Rekordhöhen getrieben hat. Und auch dafür gesorgt hat, dass sich ungute Trends etabliert haben - wie das Rote-Karte-Schinden mit übertriebener Theatralik bei jeder Mini-Tätlichkeit. Das Schicksal Neymars bei dieser WM wird dieses Phänomen hoffentlich rasch wieder beenden. Wie hoffentlich der Videobeweis bis Sonntag gar nicht mehr benötigt wird, weil die Schiedsrichter auf dem Platz so weltmeisterlich pfeifen.