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"Viel Leid und keine Vorteile"

Von Veronika Eschbacher

Politik

Aussagen stellen auch US-Präsenz in Afghanistan nach 2014 infrage.


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Kabul/Washington. Die letzten Wochen war ganz Afghanistan aus dem Häuschen. Erst hatte die afghanische Fußballmannschaft die Südasienmeisterschaft gewonnen. Und nur wenige Tage später konnte sich das nationale Cricket-Team erstmals für eine Teilnahme an einer Cricket-Weltmeisterschaft qualifizieren. Beides wurde tage- und nächtelang mit Autokorsos und Tänzen auf den Straßen im ganzen Land ausgiebig gefeiert. Vielerorts wurde gar von der "Wiedergeburt" der afghanischen Nation gesprochen, denn Afghanen aller Ethnien jubelten Schulter an Schulter. Spätestens seit Sonntag aber hat das Land die Realität wieder. Denn: Das Gerangel um die Zukunft des Landes hat volle Fahrt aufgenommen.

Anstoß dafür war nicht zuletzt ein Interview des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai, der gegenüber der britischen BBC am Montagabend eine negative Bilanz des internationalen Militäreinsatzes in seinem Land zog. Der Nato-Einsatz habe "viel Leid gebracht, den Verlust zahlreicher Leben und keine Vorteile, denn das Land sei nicht sicher", sagte Karzai. Er wäre nicht froh darüber, sagen zu können, dass heute in Afghanistan teilweise Sicherheit herrsche. "Wir wollten absolute Sicherheit und einen klar umrissenen Krieg gegen den Terrorismus." Karzai, der noch sechs Monate im Amt ist - im April 2014 finden Präsidentschaftswahlen statt, nach zwei Amtsperioden kann er nicht mehr erneut antreten -, bekrittelte zudem, dass die Nato sich "unrichtigerweise" auf den Kampf gegen afghanische Dörfer fokussiere anstelle der Taliban-Rückzugsgebiete im benachbarten Pakistan.

Es ist nicht das erste Mal, dass Karzai öffentlich die internationalen Truppen am Hindukusch kritisiert. Die jetzigen Aussagen sind aber deutlich schärfer als bisher und lassen es bei Beobachtern fraglich erscheinen, ob eine Kooperation mit dem Westen von Karzai noch gewünscht ist. Eine kleine Nato-Folgemission, die lokale Sicherheitskräfte ausbildet und finanziert, ist zwar bereits fixiert, offen ist aber nach wie vor die Präsenz von amerikanischen Truppen über das Ende der Nato-Kampfmission im Dezember 2014 hinaus. Bereits seit einem Jahr verhandeln die Amerikaner mit Karzai über dessen Abschluss.

Der Präsident fühlt sich offenbar vor allem in der Frage der afghanischen Entscheidungshoheit übergangen. "Die USA und die Nato haben unsere Souveränität nicht respektiert. Wann immer sie es passend fanden, haben sie ihr zuwidergehandelt", sagte Karzai auf einer Pressekonferenz in Kabul am Montag. Zudem gab er bekannt, dass er eine Loja Dschirga (große Versammlung der Afghanen, Anm.) innerhalb eines Monats einberufen wolle, die die Inhalte des infrage stehenden Sicherheitsabkommens mit den USA diskutieren solle.

Experte: Besser auf neuen Präsidenten warten

Wird es unterzeichnet, erlaubt es den Amerikanern, weiterhin im Land militärisch präsent zu sein, limitierte Antiterrorismus-Einsätze durchzuführen sowie afghanische Sicherheitskräfte auszubilden. Strittig sind laut afghanischem Außenministerium vor allem die Fragen, wie die USA auf externe Aggressionen Afghanistan gegenüber reagieren sollen und wie groß der Umfang der Anti-Terroraktivitäten sein darf.

Analysten sehen den aggressiven Vorstoß Karzais teilweise befremdlich und wenig sinnstiftend. "Dieses Mal ist er zu weit gegangen", sagt etwa Nader Nadery vom afghanischen Think Tank AREU in Kabul zur "Wiener Zeitung". Die Aussagen seien Ausdrücke persönlicher Befindlichkeiten und hätten nichts mit der Realität im Land zu tun und dem Bedürfnis der Afghanen nach Sicherheit. "Er (Karzai, Anm.) ist dabei, das Land für seine eigenen Bedürfnisse zu opfern." Die Afghanen würden es, sagt Nadery, aber nicht zulassen, dass ihnen ein politischer Führer verwehrt, was ihnen zustünde: "ein stabiles und friedliches Land". Um dies zu erreichen, ist laut Nadery ein Sicherheitsabkommen mit den USA notwendig. Er sei gerade erst von der Kabuler Nationalen Militärakademie zurückgekehrt, in der junge afghanische Kadetten "sehr willensstark und engagiert" trainierten. Viele der höheren Militärs jedoch, darunter Generäle, würden hinter vorgehaltener Hand angeben, dass sie ohne das Sicherheitsabkommen mit den USA nicht auf eigenen Füßen stehen könnten. Dazu seien weitere fünf Jahre Unterstützung nötig, ansonsten würde die jetzige "beeindruckende Militäreinrichtung auseinanderfallen".

Die USA hoffen, die Gespräche noch vor der Wahl von Karzais Nachfolger in sechs Monaten zum Abschluss zu bringen, damit das Übereinkommen nicht zu einem Spielball im Wahlkampf verkommt. Laut Nadery könne und solle man jedoch mit der Unterzeichnung auf den neuen Präsidenten im Frühjahr warten.