Bosnien Herzegowina macht keine Fortschritte auf dem Weg in die EU - das Vakuum füllen autoritäre und radikale Ideen.
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Wien. 25 Meter geht es in die Tiefe. Seit über 450 Jahren springen junge Männer von der "Stari Most", der alten Brücke in die kalte Neretva. Der Fluss teilt die bosnische Stadt Mostar in zwei Hälften. Nichts erinnert mehr daran, dass die Brücke im Jugoslawienkrieg 1993 von Granaten der kroatischen Artillerie zerstört wurde. Dabei wurde die Stadt - auch durch Vertreibungen - in einen kroatischen und bosniakischen Teil aufgeteilt. Bis heute gibt es verwaltungstechnisch zwei Städte. Im Jänner 2004 wurde dieser Zustand zwar formal aufgehoben und die Stadt in sechs Gemeinden eingeteilt - eine Einheit gibt es aber bis heute nicht. Denn in Folge des Streites um die Verwaltungsstruktur der Volksgruppen gab es seit 2008 keine Kommunalwahlen in Mostar. Auch dieses Jahr werden deswegen keine Wahlen stattfinden.
Britischen und US-amerikanischen Spitzendiplomaten gefällt das gar nicht. Sie werfen den bosnischen Politikern in einem offenen Brief undemokratisches Machtstreben und Unfähigkeit vor. Bosnische Spitzenpolitiker wollten das jahrelange Chaos in der Stadt aufrechterhalten, nur um ihre Macht zu sichern, heißt es in dem Schreiben. "Das ist keine Demokratie", war in den Zeitungen am Mittwoch in Sarajevo zu lesen.
Für Vedran Dzihic sind die Vorkommnisse in Mostar das "Spiegelbild der bosnischen Verhältnisse". Dafür muss man in die Vergangenheit blicken: Der Friedensvertrag von Dayton unterteilte den Staat nach dem Krieg 1995 in zwei Entitäten, die Republika Srpska entlang der östlichen Grenze und die bosnisch-kroatische Föderation im Westen. Das so geschaffene Land steckt seither in einer andauernden Krise. Seit Jahren wirbt der Präsident des kleineren Landesteiles, der Republika Srpska, Milorad Dodik zudem für eine Teilung des Landes. Und das, wo man doch im Hinblick auf den EU-Betritt Einigkeit zeigen sollte.
Der Bosnien-Experte des Österreichischen Instituts für internationale Politik sieht den Kern des Leidens in eben jener Verfassung, "die zwar zur Befriedung beigetragen hat, aber ein dysfunktionales Land geschaffen hat. Und diese Dysfunktionalität wurde in den letzten 20 Jahren so gut eingeübt, dass sie nicht abgeschafft werden will."
Der schwache Zentralstaat mit umfangreichen Blockaderechten der drei Volksgruppen (Bosniaken, Kroaten und Serben) tritt seit Jahren auf der Stelle. Wegen des politischen Stillstands und der sozialen Misere kam es 2014 bereits zu Massenprotesten, die politischen Eliten ließen sich davon aber nicht beirren.
Gegenseitiges Ausbremsen
Das sogenannte Blame Game der drei ethnischen Gruppen mache allen Reformvorhaben einen Strich durch die Rechnung, so Dzihic. Der Reflex, der jeweils anderen Gruppe die Schuld zuzuschieben, und die Unwilligkeit, den Zentralstaat zu stärken, lähmen das Land. Auch wenn Bosnien Herzegowina nach langem Tauziehen heuer offiziell den EU-Beitrittsantrag eingereicht hat, kommen die benötigten Reformen nicht zustande. Der Internationale Währungsfonds (IWF) legte daher kürzlich den neuen Kreditvertrag über 550 Millionen Euro mit Bosnien vorerst auf Eis, da die Absichtserklärung zu Reformen nicht von allen Behördenvertretern unterzeichnet worden war.
Der IWF reagierte damit jedoch auch auf die kürzliche Blockade des angepassten Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens (SAA) mit der Europäischen Union seitens der kleinen Entität, der Republika Srpska.
Aber nicht nur die Serben machen den Reformvorhaben öfter einen Strich durch die Rechnung, auch die Kroaten blockieren die EU-Annäherung Bosniens. Und generell sind die Gräben am Balkan noch tief. So halten, nach einer kürzlich veröffentlichten Studie Serben die Kroaten nach wie vor für ihren größten Feind. Der größte Freund der Serben ist mit über 41 Prozent hingegen Russland. Dzihic erklärt diese Orientierungstendenzen durch ein Vakuum, das nach dem Krieg entstanden ist und bis heute durch die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse anhält.
So ist in Bosnien die Jugendarbeitslosigkeit eine der höchsten der Welt - 70 Prozent der Jungen würden sofort auswandern, wenn sie die Möglichkeit hätten. Die Jugend lebe in einer permanenten Unsicherheit. Fragen der Identität, des Lebensstandards und der Perspektiven bleiben unbeantwortet, "das Role Model EU schwächelt", sagt Dzihic. Die allgemeine Erweiterungsmüdigkeit der EU stärkt die wachsende Skepsis, dass ein Beitritt nicht die erwünschten Veränderungen mit sich bringe. Flüchtlingskrise und Brexit haben das Bild der EU getrübt, ebenso der Blick auf den Nachbar Kroatien, der mit seinem Beitritt nicht die gewünschten Veränderungen erreicht hat.
Bosnische Jugend im Vakuum
Den fehlenden Rückhalt findet die Jugend in ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten sowie in bestimmten Ideologien, die Klarheit versprechen. Insgesamt nehmen autoritäre Tendenzen zu, so Dzihic. Die Alternativen zur EU sind vornehmlich Ideen mit einem starken Mann an der Spitze, der für Ordnung sorgt. Putins Russland ist bei den Serben viel beliebter als die EU. Die offen autoritäre türkische Regierung unter Erdogan löst hingegen große Sympathien bei jungen Bosniaken aus. Und diese Haltungen werden ständig von der Politik genährt, die auf Probleme mit Nationalismus antwortet. Der Sündenbock ist freilich immer der Andere. Diese Vorgehensweise werde von der Jugend kopiert, so Dzihic.
In das Vakuum greift auch die Ideologie des sogenannten Islamischen Staates (IS). Die Radikalisierung junger Muslime in Bosnien hat zugenommen. So sind wie aus dem Kosovo Dutzende Kämpfer aus Bosnien für den IS nach Syrien aufgebrochen. Der traditionell tolerante Islam im Land wurde zu Zeiten des Krieges in den 1990ern von Islamisten unterwandert, die im Krieg kämpften und mitunter im Land blieben.
Bosniens Zukunft ist ungewiss. Dzihic sieht keinen Ausweg aus dem eingespielten Mechanismus der Politik: "Es gibt die rhetorische Bekräftigung des Weges Richtung EU. Aber kehren die Politiker in die Niederungen der Alltagspolitik zurück, gilt der alte Mechanismus, der letztlich in halbherzigen und faulen Kompromissen endet".
Wo man auch hinschaut, sind die Gräben der Vergangenheit in Bosnien noch offen. Die ursprünglich künstliche Teilung des Landes ist längst zur Tatsache geworden. In Sachen Aufarbeitung des Krieges und des Nationalismus hat sich so gut wie nichts getan. Im Gegenteil, die politischen Eliten vertiefen die Trennung. Das exklusive Schul- und Bildungssystem zeigt die Sozialisierung junger Bosnier: Kinder gehen in getrennte Schulen mit eigenen Lehrern, Büchern und Schulplänen - und lernen jeweils, dass der Andere der Aggressor im Krieg war.
Die Vergangenheit zu bewältigen, ist bis dato nicht gelungen. "Die exklusiven, nationalistischen Narrative werden weitergetragen und fortgeführt", sagt Dzihic. Eine Einigung des Landes hält er schlicht für utopisch. Aber: "Bosnien kann ein Land aus zwei Teilen sein, wo Politiker auf allen Seiten bereit sind, Konsenz zu erzeugen und Reformen zu erzielen." Brüssel müsse zudem eine lebendige EU-Perspektive garantieren. Schritt für Schritt könnte man so mit Austauschprogrammen, legaler Migration und Förderungen daran arbeiten, das Vakuum zu verkleinern.