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Viele Amerikaner wollen nichts vom Jahrestag hören

Von Louise Daly

Politik

Chicago - Vermutlich gibt es kein Entkommen: Unzählige Rückschauen, Dokumentationen, Sonderausgaben, Zeitungsartikel, Reportagen und Kolumnen warten schon auf Leser und Zuschauer. Und auf den 11. September - den Tag, an dem sich die Anschläge auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington zum ersten Mal jähren. Nicht, dass sie die Anschläge vergessen möchten - nur wollen manche einfach nichts mehr davon hören.


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"Ich bin es so leid, das ständig eingetrichtert zu bekommen", stöhnt Sarah Tyler, die als US-Bürgerin in Berlin lebt. Die Berichterstattung nach den Anschlägen habe sie überwältigt. Und weil zum ersten Jahrestag bestimmt noch einmal alles wieder aufbereitet wird, will sie rechtzeitig nach Florida in Urlaub flüchten: "Die Menschen müssen nach vorne schauen", begründet sie ihren persönlichen Boykott.

So ähnlich sieht das auch Donna Walters, eine Frau um die 50: "Um ehrlich zu sein, macht mir die Wirtschaft mehr Sorgen als der 11. September." Sie habe niemanden gekannt, der bei den Anschlägen ums Leben kam, die Angriffe hätten sie persönlich nicht betroffen. "Ich möchte nicht gefühllos klingen, aber ich glaube, das war eher eine Sache von New York oder Washington", meint Walters, die als Fremdenführerin in Chicago arbeitet.

Und sogar Maurice Regan, der immerhin New Yorker ist, hat kein sehr großes Interesse an den ganzen Sendungen, die das Fernsehen zum 11. September bringen wird: "Ich schaue mir vielleicht die ersten fünf Minuten an - schließlich war es ganz in der Nähe von mir." Der 37-jährige Bauunternehmer kannte einige der knapp 3.000 Toten durch seine Arbeit. Trotzdem, meint er, sei der Jahrestag wohl eher für die Familien der Opfer wichtig.

In einer Umfrage der US-Zeitung "USA Today" kam unlängst heraus, dass die Hälfte der 350 Befragten des Themas überdrüssig waren. Und viele hofften darauf, dass die Fernsehanstalten sie am 11. September nicht mit den bekannten Bildern bombardieren würden. "Ich habe die Bilder von den Flugzeugen, die in die beiden Türme steuerten, an dem Tag immer und immer wieder gesehen", sagt Janet Braunstein, eine 42-jährige Autorin aus Detroit im US-Staat Michigan. "Ich muss sie nicht noch einmal sehen."

Aber das wird schwierig sein. Die US-Sender planen für den Jahrestag ein umfassendes Programm: CBS will 13 Stunden lang berichten, NBC 14 Stunden und ABC 15 Stunden. Sarah Tyler dagegen findet, dass der 11. September eher Anlass für ein paar kritische Gedanken zur Regierung in Washington sein sollte. Die US-Politik in Afghanistan, Pakistan und Saudiarabien sei ihr peinlich, sagt Tyler, die in Berlin für eine nichtstaatliche Organisation arbeitet. Im Übrigen schäme sie sich für die "vielen" Menschenrechtsverletzungen.

Auch Bürgerrechtsgruppen weisen darauf hin, dass die USA zumindest das Bürgerrecht massiv verletzt hätten. Hunderte Araber seien nach den Anschlägen verhaftet, hinter verschlossenen Türen verhört, in die Kriminalakten aufgenommen worden. Oft genug hätten sich die jungen Männer nur kleinere Verstöße gegen das Einwanderungsgesetz zu Schulden kommen lassen. "Wofür kämpfen die USA denn eigentlich?", fragt sich Tyler. "Vielleicht ist dieser Jahrestag der richtige Moment für ein paar klare Antworten."