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Viele Ansichten - und keine Meinung

Von Martyna Czarnowska

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Wie fern Europa eine gemeinsame Außenpolitik ist, zeigt sich beim Umgang mit China und Russland. Die EU-Außenminister zögern nicht lange. Kaum sind die Nachrichten von niedergeknüppelten Protesten in Tibet bestätigt, versammeln sich die Ressortleiter aller 27 Mitgliedsstaaten in Brüssel. Die Sondersitzung leitet der Hohe Repräsentant für die Außenpolitik der EU, der mehr als nur repräsentative Aufgaben erfüllt.


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Auf eine heftige Diskussion folgt die Entscheidung: Die Olympischen Spiele in China zu boykottieren, habe keinen Sinn. Dies würde Peking nur erzürnen und für weitere Kritik taub machen. An der Eröffnungszeremonie der Spiele nimmt allerdings kein einziger Politiker aus einem EU-Land teil, lautet der Beschluss. Stattdessen wird eine gemeinsame Erklärung aufgesetzt, in der China mit klaren Worten zur Einhaltung der Menschenrechte aufgefordert wird. Zum nächsten Ministertreffen wird der Dalai Lama eingeladen. Drei Stunden später ist der Appell veröffentlicht.

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So könnte es aussehen. Tut es aber nicht. Weil es eine gemeinsame EU-Außenpolitik allerhöchstens in Ansätzen gibt. So ist eine einheitliche Linie in den Beziehungen zu China ebenso wenig zu erkennen wie im Verhältnis zu Russland. Manche Länder wollen die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele nach den Ereignissen in Tibet boykottieren, andere nicht.

Und warum sollten die gleichen Debatten nicht auch vor der Olympiade in Sotschi 2014 losgehen? Wird Russland bis dahin zu einer gefestigten Demokratie, wo weder die Opposition noch eine Volksgruppe unterdrückt wird?

Die Vorsicht, die die EU im Umgang mit den Ländern walten lässt, hat wirtschaftliche Gründe. Das Handelsvolumen zwischen der Union und China ist seit der Jahrtausendwende um mehr als 150 Prozent gestiegen. Europa importierte im Jahr 2006 chinesische Waren im Wert von fast 200 Milliarden Euro.

Von Russland, ebenfalls einem der wichtigsten Handelspartner für die Europäer, bezieht die Union rund ein Drittel ihrer Öl- und Gasimporte. Das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren war in dem riesigen Land drei- bis viermal so groß wie in der EU.

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Bei all den wirtschaftlichen Argumenten rücken andere Überlegungen in den Hintergrund. Klar wird im Westen auch ab und zu erwähnt, dass die Menschenrechtsverletzungen in China oder Russland nicht schön seien. Es ist dasselbe Europa, das sich die Achtung dieser Rechte als eines der obersten Prinzipien auf die Fahnen geheftet hat.

Doch wie diese Leitlinien bei anderen durchsetzen? Mit Boykotten oder Handelsblockaden, wofür manche Länder plädieren? Oder ist - wie andere meinen - Geduld statt massiver Druck angebracht, ein stetes aber vorsichtig leises Pochen auf demokratische Veränderungen?

Wie geschickt diese Meinungsvielfalt ausgenützt werden kann, zeigt vor allem Russland vor. Moskau kann etwa mit dem europäischen Konzept offener Energiemärkte wenig anfangen. Im Westen ohne Hindernisse investieren - ja. Doch der Zugang zum russischen Markt soll für Ausländer weiter beschränkt sein. Und solange sich die EU nicht auf eine gemeinsame Haltung einigt, kann Russland weiterhin bilaterale Liefer- und Transitverträge abschließen - und so die einzelnen EU-Staaten gegeneinander ausspielen.

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Ebensowenig spürt Moskau - wie Peking - einheitlichen Druck von allen Seiten bei gesellschaftspolitischen Fragen. Andere Signale kommen aus Berlin denn aus London, Paris oder Warschau. Anders reden Politiker in ihren Ländern als bei EU-Ministertreffen in Brüssel. Je nach Bedarf und wirtschaftlicher Interessenslage formuliert jeder Staat seine eigene Ansicht. Für die Europäische Union als Gesamtheit ist die Konsequenz: keine Meinung.

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