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"Viele Brasilianer sind in die Armut zurückgefallen"

Von Konstanze Walther

Politik

Der Brasilien-Experte Klaus Hofstadler über die wirtschaftliche Situation im größten Land Lateinamerikas.


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"Wiener Zeitung":Brasiliens Noch-Präsident Michel Temer hatte bei seiner Amtsübernahme 2016 versprochen, die Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Brasilien war mitten in einer schweren Rezession. Aber die Erholung lässt auf sich warten. Allein in diesem Jahr hat die Landeswährung Real um 20 Prozent abgewertet. Der Internationale Währungsfonds hat zuletzt das Wachstum für 2018 auf 1,8 Prozent geschätzt, was für Brasilien noch immer wenig ist.

Klaus Hofstadler: Und auch diese Wachstumsprognose ist optimistisch. Die Aussichten werden immer wieder nach unten revidiert. Für dieses Jahr kann es sein, dass es noch auf ein Prozent hinunter geht. Der brasilianischen Wirtschaft geht es nun schon seit mehreren Jahren nicht besonders gut. Bereits im Jahr 2014 - also vor den Rezessionsjahren 2015 und 2016 - lag das Wirtschaftswachstum unter dem Bevölkerungswachstum. Und anders als bei früheren Krisen in Brasilien folgte auf die Rezession keine rasche Erholung, sondern Stagnation. Und das spürt man auch. Brasilien hat derzeit den Rekord von 13 Millionen Arbeitslosen. Die fallen damit als Konsumenten aus - und dabei ist die Binnennachfrage ein äußerst wichtiger Wachstumstreiber in Brasilien. Zusätzlich gibt es noch viele Unterbeschäftigte, die sehr schlecht verdienen und damit auch keine spürbaren Impulse für das Wachstum geben können.

Die linke Arbeiterpartei PT war mit Lula und Dilma Rousseff von 2003 bis 2016 an der Macht. In diesem Zeitraum hat sich der Mindestlohn fast verdoppelt. Damit konnte man den Konsum ankurbeln. Seit 2016 stagniert die Lohnentwicklung, was bei steigenden Lebenshaltungskosten natürlich extra spürbar ist.

Der Privatkonsum der brasilianischen Haushalte entspricht fast 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn die Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst weniger konsumieren, merkt man das sofort bei wichtigen Sektoren wie Wohnbau oder Automobilindustrie. Aktuelles Problem ist natürlich die politische Unsicherheit. Viele brasilianische Unternehmen wollen das Wahlergebnis abwarten, bevor sie Investitionsentscheidungen treffen. Unabhängig von aktuellen Entwicklungen gibt es strukturelle Probleme. Das sind etwa die traditionell hohen Kreditzinsen und die vielfach unzureichende Transport-Infrastruktur.

Brasilien hat eine hohe Staatsverschuldung. Der IWF glaubt, dass diese im Jahr 2023 mit mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ihren Höhepunkt erreichen wird. Der US-Notenbankchef Jerome Powell hat Brasilien bereits empfohlen, vom Dollar in andere Währungen umzuschulden, damit die Verschuldung nicht noch durch Währungseffekte getrieben wird.

Wobei man sagen muss, dass der Real gegenüber dem Dollar vor allen Präsidentschaftswahlen verloren hat - aktuell steht er bei 4 zu 1, wie schon 2002, als Lula zum ersten Mal gewählt wurde. Experten der Economist Intelligence Unit gehen davon aus, dass der Real in den nächsten Jahren nicht weiter abwerten, sondern sich unter dem aktuellen Wert einpendeln wird. Trotzdem: Der brasilianische Staatshaushalt hat aus dem Ruder laufende Fixkosten, vor allem für die Pensionen. Aufgrund der schlechten Wirtschaftsentwicklung fallen auch die Steuereinnahmen gering aus, dadurch steigt das Budgetdefizit. Temers konservative Regierung hat deshalb eine Ausgabenbremse beschlossen. Dadurch ist der Möglichkeit, die Wirtschaft mit öffentlichen Investitionen anzukurbeln, eine Grenze gesetzt worden.

Geldquelle in Brasilien waren immer die Rohstoffexporte...

Seit der globalen Wirtschaftskrise haben sich die Weltmarktpreise für Erdöl und mineralische Rohstoffe noch nicht erholt. Der Höhenflug bei den Commodity-Preisen war auch Mit-Auslöser für die Boom-Jahre, als Brasilien international gefeiert wurde.

Ex-Präsident Lula hat weltweit Anerkennung erfahren aufgrund seiner Programme zur Armutsverminderung und Hungerbekämpfung. Schätzungen sagen, dass eine Million Menschen jetzt wieder binnen eines Jahres in die absolute Armut zurückgefallen sind.

Durch die Wirtschaftskrise und den extrem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit sind tatsächlich sehr viele in die Armut zurückgefallen. Denn die Gründe, warum diese Menschen die Aufstiegsmöglichkeit hatten, waren der wachsende Mindestlohn, die Formalisierung von informellen Arbeitsverhältnissen sowie Transferleistungen für einkommensschwache Familien. Nach wie vor geht es aber vielen Leuten aus den ärmeren Schichten besser, als es ihnen vor Lula gegangen ist.

Es gibt für die Präsidentschaftswahl am Sonntag zwei Favoriten, die höchstwahrscheinlich in die Stichwahl einziehen. Der rechtspopulistische Kandidat Jair Bolsonaro sorgt im Ausland vor allem mit seinen saftigen Aussagen für Schlagzeilen. Aber Bolsonaro will auch den bekannten Investmentbanker Paulo Guedes als Superminister für Finanzmarkt und Wirtschaft installieren. Viele Wirtschaftstreibende scheinen bereit zu sein, über Bolsonaros Aussagen hinwegzusehen und auf Reformen von Guedes zu hoffen, während man beim linken Favoriten Fernando Haddad vom PT befürchtet, Brasiliens Arme werden über Schulden finanziert.

Es stimmt, Guedes ist Investment Banker und Absolvent der Chicago School of Economics. Mit seinen sehr liberalen wirtschaftspolitischen Ansichten spricht er vermutlich zahlreiche Wirtschaftstreibende an. Trotzdem gebe ich zu bedenken: Die Umfragen sagen mehr als 30 Prozent für Bolsonaro und 23 Prozent für Haddad. Es gibt aber nicht 30 Prozent Industrielle in Brasilien. Ich möchte auch nicht 30 Prozent der Brasilianer unterstellen, dass sie Bolsonaro wegen seiner teilweise extremen Aussagen wählen. Vielmehr hat er es geschafft, den größten Anteil der Proteststimmen zu vereinigen: Proteststimmen gegen das sozial- und wirtschaftspolitische Programm des PT, aber auch generell gegen das als korrupt empfundene politischen Establishment. Bolsonaro, obwohl er selber schon bei sieben Parteien war und auch sehr lange als Abgeordneter tätig ist, hat es geschafft, sich als Außenseiter-Kandidat und vehementester Gegner des PT zu profilieren. Bei Wirtschaftsthemen beruft sich Bolsonaro auf die inhaltliche Kompetenz von Paulo Guedes.

Die potenziellen Wähler von Bolsonaro stehen jener Masse gegenüber, die jederzeit für Lula stimmen würden, der aber nun im Gefängnis sitzt.

Fernando Haddad ist der von Lula bestätigte Kandidat der Arbeiterpartei. Er verfügt zwar nicht über das Charisma von Lula, hat aber breite Unterstützung bei Menschen, deren Lebensumstände sich durch Lulas Sozialprogramme verbessert haben. Das Problem ist derzeit die starke Polarisierung zwischen Links- und Rechtspopulismus. Spannend wird es - sollten eben Bolsonaro und Haddad in die Stichwahl einziehen -, wie sie sich vor dem zweiten Wahldurchgang an das Zentrum annähern. Beide werden nur über Stimmen der moderaten Wähler gewinnen können.

Wieso schaffen es Kandidaten von den größten Zentrumsparteien nicht in die Favoritenrolle? Bolsonaros Partei hat eine verschwindend kleine Anzahl an Sitzen im Parlament.

Diese Situation ist in Brasilien neu. Denn bei den vergangenen sechs Präsidentschaftswahlen waren die Erst- und Zweitplatzierten immer Kandidaten der Zentrumspartei PSDB und der PT. Dass Bolsonaro die Umfragen anführt, ist für Brasilien also durchaus außergewöhnlich. Die regierungserfahrenen Zentrumsparteien sind besonders stark betroffen von der allgemeinen Unzufriedenheit. Bestes Beispiel ist die Kampagne von Zentrumskandidat Geraldo Alckmin. Obwohl er die stärkste Parteienkoalition hinter sich hat, kommt Alckmin in den Umfragen nicht über 10 Prozent hinaus. Das ist umso überraschender, als ihm durch diese breite Parteienkoalition der Löwenanteil der politischen Fernseh- und Radiowerbung zusteht. Aber es hilft ihm nicht, weil er sehr stark das alte Politiksystem repräsentiert. Man darf zudem nicht vergessen, dass die sogenannten großen Parteien auch nicht so groß sind, wie wir das in Europa kennen. Es gibt ja knapp 30 Parteien, die im Parlament vertreten sind, darunter auch die kleine PSL von Bolsonaro. Ich kann mir sogar vorstellen, dass viele Wähler gar nicht wissen, für welche Partei Bolsonaro antritt. Sie wählen einfach ihn, als Person und Symbol des Protests.

Die andere konservative Zentrumspartei, der MDB, schickt Henrique Meirelles als Präsidentschaftskandidat ins Rennen. Der ehemaligen Finanzminister und Präsident der brasilianischen Zentralbank ist mit 2 Prozent in den Umfragen weit abgeschlagen. Mit Noch-Präsident Temer stellt der MDB den unbeliebtesten Präsidenten Brasiliens mit Zustimmungsraten im untersten einstelligen Bereich. Welche Reformen hat Temer durchgeführt, die im Wahlkampf Thema sind?

Es gibt einerseits die schon erwähnte Ausgabenbremse. Das andere wichtige Thema ist die Arbeitsrechtsreform. Diese Flexibilisierung heißt die Wirtschaft pauschal gut, bietet aber Angriffsfläche für andere Parteien.

Haddad will alles zurücknehmen?

Haddad hat angekündigt, sowohl die Ausgabendeckelung als auch die Arbeitsrechtsreform aufheben zu wollen. Bolsonaro hat als Abgeordneter für beide Reformen gestimmt. Nachdem laut Umfragen keiner der Kandidaten am 7. Oktober die absolute Mehrheit erreichen wird, beginnt nächste Woche der Wahlkampf um die moderaten Wähler für die Stichwahl am 28. Oktober. Außerdem werden Bolsonaro und Haddad über Allianzen mit den ins Parlament gewählten Parteien verhandeln. Dann wird klarer werden, für welche wirtschaftspolitischen Reformen sich Bolsonaro und Haddad einsetzen wollen.