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"Viele haben erstmals gesprochen"

Von Ina Weber

Politik

Generalsekretärin Hannah Lessing im WZ-Interview. | Hoffnungsvolles Warten auf Rechtssicherheit in den USA. | Wien.Selbstbewusst, impulsiv, eloquent. Ein Blick auf die Kamera, schnell ein paar Bürstenstriche durchs Haar und schon beginnt Hannah Lessing zu erzählen. "Sagen Sie einfach Stopp", sagt sie lachend, "denn wenn ich einmal anfange, höre ich nicht mehr auf." Begonnen hat Lessings Arbeit für den Nationalfonds 1995, als sie "mit einer irrsinnigen Chuzpe" ins Büro des damaligen Nationalratspräsidenten Heinz Fischer spaziert ist. "Ich habe davor meinen Vater (Fotograf Erich Lessing, Anm.), gefragt, was er als verfolgter und enteigneter Jude von einem Land nach 50 Jahren erwarten würde. Gar nichts, habe dieser geantwortet, erzählt Lessing.


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Fischer habe sie vorgeschlagen, die Opfer des Nationalsozialismus "aktiv" zu suchen und zu schreiben: "Wir wissen, dass es zu spät ist, und wir wissen auch, dass nichts wieder gut gemacht werden kann". "Die früheren Maßnahmen, wie etwa die Zahlungen im Gedankenjahr 1988, waren zwar sehr oft in der ,Wiener Zeitung publiziert", erzählte Lessing, aber für jemanden, der in Uruguay lebt, "wie soll der darauf kommen".

So begann Lessing mit fünf Mitarbeitern und einem kleinen Büro in der Nähe des Parlaments. "120 Menschen im Wartezimmer pro Tag waren keine Seltenheit", erzählt sie. Wir wussten überhaupt nicht, was auf uns zukommen würde. Was wir am wenigsten erwartet haben, war der Dank. "Das Geld ist mir wichtig, weil ich brauche neue Brillen, ein Hörgerät oder ein Gebiss, aber dass zum ersten Mal mir jemand sagt, es tut mir leid, und dass man mich nicht vergessen hat, bedeutet mir so viel", sagten die Überlebenden zu Lessing. Viele Leute seien danach gestorben, nachdem sie Brief und Geld bekommen haben. "Sie haben losgelassen."

Die Bedingungen für eine Auszahlung aus dem Nationalfonds sind, laut Lessing, klar festgelegt: Jeder, der Österreicher war oder bis 1938 einen Wohnsitz über mindestens zehn Jahre in Österreich hatte und einen Verfolgungsgrund vorweisen konnte, wurde aufgenommen. Erstmals gilt dies auch für Homosexuelle, die Kinder vom Spiegelgrund und Roma und Sinti. Viele haben zum ersten Mal gesprochen, "weil wir nicht Familie sind", sagte Lessing. Die Familie wollte man nicht belasten.

"Wir waren Anlaufstelle für 1000 Schmerzen"

Für sie selbst und ihre Mitarbeiter bedeutete das ebenfalls, eine Therapie zu machen. "Die Ärzte haben uns an der Hand genommen und durchs KZ geführt", sagte Lessing. "Uns war klar, dass wir durch unsere Arbeit Menschen retraumatisieren. Was sie jetzt jahrelang verdrängt hatten, ist durch unsere Arbeit, wieder hervorgetreten."

Lessing reiste in den letzten zehn Jahren in fast jedes Land, wo mehr als 1000 Österreicher leben: nach Uruguay, Argentinien, Amerika, Israel, Frankreich, England. In Argentinien etwa hat sie 350 Exil-Österreicher getroffen. "Deren Kinder und Enkel sind in die USA emigriert, zurückgeblieben ist der 80-jährige österreichische Emigrant", so Lessing, "der seine Pension mit Ach und Krach über die Botschaften bezieht und vollkommen vereinsamt".

Das Prinzip des Entschädigungsfonds, für den mittlerweile rund 150 Mitarbeiter in der Kirchberggasse im 7. Bezirk arbeiten, ähnelt dem des Nationalfonds, erklärte Lessing. "Wir recherchieren für die Menschen, weil die meisten keine Dokumente mehr haben. Wir reden hier von wirklichen Vermögensverlusten während der NS-Zeit, daher muss man das belegen."

19.000 Anträge - darin ca. 200.000 Einzelforderungen auf Vermögenswerte - wurden eingereicht, die von 40 Historikern überprüft werden. "Wir müssen aufpassen, ob nicht bereits entschädigt wurde", sagte Lessing. Bis 2007 will sie alle Anträge fertig haben. Die im Nationalrat beschlossenen Vorauszahlungen könnten jedoch auch erst bei Beendigung der letzten in den USA laufenden Sammelklage geleistet werden. Bis Ende des Jahres will Lessing 5000 Entscheidungen des Antragskomitees vorliegen haben. Nach Ablauf der Berufungsfrist würden davon rund 2000 rechtskräftig sein. "Wenn der Antragsteller stirbt, wird das Geld den Erben ausgezahlt werden".

Dass alle parlamentarischen Parteien "immer alles einstimmig beschlossen haben", war für Lessing Antriebskraft. Nationalratspräsident Andreas Khol habe sich sehr für Vorauszahlungen engagiert. Lessing habe Antragsteller in Argentinien, in Amerika, in London, die von 500 Euro im Monat leben, in Ländern die wesentlich teurer sind, wo es keine medizinische Versorgung gibt, wie bei uns. Diesen Menschen sind wir es schuldig, dass die letzten Jahre ihres Lebens relativ gut abgesichert sind. Pflegegeld, erhöhte Pensionen, Pensionsnachzahlungen bis 1938 - solche regelmäßigen Zeichen seien wichtig.

Lessing hofft auf ein baldiges Ende der Klage in den USA, damit die Gelder endlich ausgezahlt werden können. Dennoch verstehe sie auch die Klägerin Dorit Whiteman, die hofft, mit ihrer Klage zu mehr Gerechtigkeit zu kommen.