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"Viele interessieren sich heute nicht mehr für die Wahl"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Grigorij Melkonjanz, Co-Vorsitzender der russischen Bürgerrechtsbewegung Golos, über den Wahlkampf und die Aussichten | für die Zeit nach der Duma-Wahl.


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"Wiener Zeitung": Die Organisation "Stimme für ehrliche Wahlen" (Golos) beobachtet seit Jahren Wahlen in Russland. Wie bewerten Sie den heurigen Wahlkampf?Grigorij Melkonjanz: Wir haben gesehen, dass die Verwaltung ihre organisatorischen Ressourcen massiv einsetzt, um eine politische Partei (in diesem Fall "Einiges Russland", Anm.) zu pushen. Wir nennen das "administrative Ressource". Zugleich wird in den staatsnahen Medien nur von der Kremlpartei berichtet. So sieht der Wähler einfach keine Alternative. Die Parteien treten unter völlig unterschiedlichen Voraussetzungen an.

Die Wahl wurde von Dezember auf September vorverlegt - um die Beteiligung niedrig zu halten?

Wir sehen hier einen Widerspruch zwischen regionaler und zentraler Macht: Eine hohe Wahlbeteiligung erhöht die Unvorhersehbarkeit der Wahlen. Das möchte die föderale Macht verhindern. Deswegen wurden die Wahlen vorverlegt. Dass die Leute, die aus dem Urlaub kommen, den Wahlkampf gar nicht erst verfolgen. Dann werden auch ihre Forderungen an die Staatsduma geringer sein. Zugleich können aber regionalen Gruppen diesmal über die Direktmandate ihre Abgeordneten nach Moskau schicken. Sie haben ein Interesse, dass es eine hohe Wahlbeteiligung gibt. Wir erwarten daher mehr Druck auf den Wähler am Tag der Stimmabgabe.

Zugleich sind diesmal doppelt so viele Parteien zugelassen als 2011.

Das ist ein Plus, keine Frage. Aber qualitativ hat sich wenig geändert. Die Parteien sind schwach und haben geringe Ressourcen. Es werden wohl wieder nur vier Parteien in die Duma kommen.

Mit Ella Pamfilowa wurde eine angesehene Menschenrechtsbeauftragte zur Leiterin der Zentralen Wahlkommission (ZIK) ernannt. Was hat sich unter ihr verändert?

Ich glaube tief und fest, dass sie daran interessiert ist, dass die Wahlen so ehrlich und frei wie möglich stattfinden. Aber es ist schlichtweg unmöglich, alle Probleme innerhalb von Monaten zu lösen, die sich über Jahre angehäuft haben. Wir haben im Land 95.000 Wahlkommissionen! Man müsste die eigentlich alle neu besetzen. Das ist ein sehr langwieriger Prozess. Es ist klar, dass die meisten Leute so arbeiten werden wie bisher. Was aber positiv ist: Die Direktmandate wurden wieder eingeführt. Golos hat sich stets dafür eingesetzt, dass Konkurrenz und Interesse an den Wahlen steigen. In der Lage, in der sich unser politisches System befindet, ist das zumindest etwas. Ich denke, dass auch Einiges Russland versteht, dass etwas geändert werden muss. Die Macht wird sich überlegen müssen, wie sie in diesen neuen politischen Realitäten arbeiten soll.

Was meinen Sie mit "neuen politischen Realitäten"?

Die Ermüdung der Wähler. Bei allen Wahlen wurde versprochen, dass es aufwärts geht. Es ist klar, dass das jetzt nicht mehr geht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Führung in einer Krise steckt. Und diese Wahlen zeigen, dass dieses Modell nicht mehr länger funktionieren wird. Dass man einen Neustart braucht. Die Führung hat es verlernt, auf die Herausforderungen eingehen zu können, die es in der Gesellschaft gibt. Sie hat den Kontakt zur Gesellschaft verloren. Moskau versteht, dass es ein sehr großes Risiko ist, wenn in den Regionen die sozialen Spannungen steigen. Was haben sie dort? Silowiki (Anm.: Geheimdienstler)? Aber sie können doch nicht alle einfach festnehmen oder auseinandertreiben!

Zugleich beobachten wir einen starken Druck auf die Opposition. Glauben Sie wirklich, dass es mehr Freiraum geben wird?

Ich denke, dass es weiterhin großen Druck auf die Opposition geben wird. Aber: Das sind zwei voneinander abgekoppelte Prozesse. Es gibt die Silowiki, die Druck ausüben. Das ist ihre Arbeit und sie denken, so ihre Existenz rechtfertigen zu können. Sie müssen zeigen, dass man sie braucht - und ohne sie das Land zerfällt. Es gibt aber auch Kräfte, die die Lage angemessener einschätzen: Dass die Opposition keine Gefahr ist, sondern, im Gegenteil, die Möglichkeit für die Macht, zu überleben. Wenn man jede Konkurrenz zerstört, wird sich der gesamte Zorn der Bevölkerung nur gegen sie richten. Deswegen ist es besser, eine konstruktive Opposition zu haben.

Unter welchen Umständen arbeitet Ihre Organisation jetzt?

Einerseits gibt es Kräfte an der Macht, die verstehen, dass Golos diesen Wahlen mehr Legitimität verleihen kann - selbst dann, wenn wir Wahlfälschung dokumentieren. Und dann gibt es andere, die das als Bedrohung wahrnehmen und uns einschüchtern. Das ist eine offensichtliche Schizophrenie. Unsere Organisation arbeitet inzwischen sehr gut mit der ZIK zusammen. Andererseits ist aber der Druck der Silowiki auf uns groß. Sie verfolgen uns, hören uns ab, diffamieren uns in den Medien. Sie wollen uns zeigen, dass wir im Visier der Geheimdienste sind.



Wie sieht es denn mit den Wahlbeobachtern aus?

Bei den Wahlen 2011 haben wir einen großen Boom erlebt. Die Leute haben geglaubt, dass sie die Wahlen kontrollieren können. Sie haben Wahlfälschung mit eigenen Augen gesehen und alles dokumentiert. Sie wollten, dass sich etwas ändert, aber es hat nicht geklappt. Viele waren zum erstmals Wahlbeobachter. Doch mehr als die Hälfte von ihnen interessiert sich heute nicht für die Wahl.

Zur Person

Grigorij Melkonjanz

(35) ist Vizeleiter von Golos. Die Organisation beobachtet seit 2000 Russlands Wahlen und bildet Wahlbeobachter aus. 2013 wurde sie als "ausländischer Agent" eingestuft, danach gründete sie sich als Bürgerrechtsbewegung neu.