Nur ein echter Paradigmenwechsel kann die Weltpolitik in die Zukunft führen.
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"Wiener Zeitung": Der Klimawandel erhöht das Risiko für Wasserknappheit um 40 Prozent; in Krisenzeiten steigt die Zahl der Raucher; Ungleichheit steigert die Bereitschaft zur Zusammenarbeit: Ihr Institut, das IIASA, macht mit vielen Themen Schlagzeilen. Doch was genau ist angewandte Systemanalyse?
Pavel Kabat: Wir wollen die spezifischen Prozesse verstehen, die globalen Übergängen zugrunde liegen. Wir untersuchen somit nicht den Klimawandel, Biodiversität, Bevölkerungszuwachs, ökonomische Entwicklung oder das Energieproblem an sich, sondern das Zusammenspiel aller Bereiche. Systemanalyse ist die Summe der Verbindungen und Feedbacks zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, Umweltthemen und geopolitischen Systemen. Unser wichtigster Auftrag ist dabei, Brücken zu bauen zwischen den Disziplinen und über Grenzen hinweg.
Wie darf man sich das vorstellen?
Ein Umweltminister verfolgt eine Klimapolitik mit Klimazielen und darf dabei das Wirtschaftswachstum nicht außer Acht lassen. Da rund 80 Prozent der Emissionen auf den Energiesektor zurückzuführen sind, ist das Energieproblem an den Klimawandel geknüpft, dessen Lösung daher eine gemeinsame Sache der zuständigen Ministerien für Energie, Wirtschaft und Umwelt. Wir wollen die politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Vorteile ergründen, die darin liegen, mehrere Sektoren gemeinsam zu denken.
Welche Fragen sind am wichtigsten und mit welcher Methodik finden Sie die Antworten?
Dazu muss ich ausholen. Das IIASA wurde in einer schwierigen Zeit konzipiert. 1966 hielt US-Präsident Lyndon B. Johnson eine Rede, die auch als Ruf an die Sowjetunion zu verstehen war: Trotz aller politischen Differenzen, wie die Kubakrise oder die Berliner Mauer, müsse die Menschheit Energie, Wasser und Umwelt als gemeinsame Probleme begreifen, denn die Übergänge auf dem Weg zur Veränderung würden alle erleben. Johnson schlug vor, in der Sprache der Wissenschaft miteinander zu reden. Moskau reagierte positiv und begann, mit den Amerikanern über das IIASA zu verhandeln, das 1972 gegründet wurde. Die zwölf Mitgliedsländer waren je zur Hälfte aus West- und aus Osteuropa. Die Charta war damals sehr ungewöhnlich, denn sie legte fest, dass die besten Köpfe der Welt gemeinsam Lösungen erarbeiten sollten. Heute gibt es fast kein Umweltthema, das nicht von IIASA losgetreten wurde. Wir haben den ersten Bericht zur Ernährungssicherheit gemacht und den ersten zur Biodiversität, und auf Einladung Michail Gorbatschows erfanden Wirtschaftsexperten aus aller Welt hier das Rezept für den Umbau die Sowjetunion, die Perestroika.
Sie sind einer der führenden Autoren des UN-Klimarats IPCC. Wie gehen Sie vor beim Weltklimabericht?
Wir bringen die besten Wissenschafter zusammen, um plausible Szenarien zu entwerfen. Dazu arbeitet das IIASA mit ökonomischen Modellen, Energiemodellen und strategischen Statistiken. Zugleich haben wir uns Möglichkeiten zur Klimawandelbekämpfung, die Luftqualität in den größten Städten und deren Auswirkungen auf die Gesundheit angesehen. Der Weltklimabericht ist somit eine Systemanalyse unter Berücksichtigung dieser Faktoren mit unterschiedlichen Wenn-dann-Szenarien für unterschiedliche Gebiete und ökonomische Blöcke der Erde.
Wir haben auch berechnet, was einträte, wenn wir sektorübergreifend alles verbessern würden - also Klimaziele einhalten, Luftqualität verbessern und eine bessere Gesundheitsbilanz erzielen - und was der Fall wäre, wenn nicht. Wie sich zeigt, wäre es um 40 Prozent billiger, wenn der sektorübergreifende Ansatz verwirklicht würde.
Wie sieht der Energieverbrauch der Zukunft aus?
Das hängt stark vom ökonomischen und politischen Kontext ab. Bis zur Schiefergas-Revolution galt es als die beste Lösung, den globalen Anteil von aus Kohle gewonnener Energie bis 2050 auf unter zehn Prozent zu reduzieren, Erdgas und Biomasse zu verdoppeln und die Atomenergie auf zehn Prozent zu senken. Im Juli 2012 verkündeten die USA jedoch, den Abbau von Schiefergas zur Priorität zu machen. Während man hier noch die Energiewende plant, könnte der US-Rohstoffsektor den gesamten Markt verändern. Denn wenn die Schiefergas-Revolution erfolgreich ist, könnte die US-Wirtschaft bis 2030 unabhängig von Ölimporten aus Opec-Ländern sein. Preise für Öl, Gas und erneuerbare Energien würden verfallen, Investoren ihr Geld anders anlegen, die Opec stärker nach China exportieren und das Interesse der USA am Nahen Osten verschwinden. Schiefergas könnte die Welt destabilisieren.
Welche brennenden Fragen werden uns noch beschäftigen?
Wir müssen die Zukunft des Planeten, von Gesellschaften und politischen Verschiebungen verstehen. Es gibt riesige Umwälzungen, aber wir haben momentan weder ein grundsätzliches Übereinkommen noch ein gemeinsames Verständnis, wie die Entwicklungen zumindest in den nächsten 30 Jahren zu lenken sind.
In welche Richtung soll es gehen?
Die Welt hat keine Richtung, sie fährt wie ein Schiff ohne Steuermann. Wir probieren alles Mögliche aus, versuchen, Entwicklungen kurzfristig zu korrigieren, sind zufrieden mit kleinem Wachstum. Die Resultate des UN-Klimagipfels Rio+20 machen aber nur zu deutlich, dass sich die großen Spieler im Schicksal der Erde in ihre Lager zurückgezogen haben und die Umwelt als Feind der Wirtschaft gesehen wird. Preisgekrönte Akademiker versuchen verzweifelt, ihre Botschaften rüberzubringen, doch nur sehr wenige Forschungsarbeiten fließen in die Systementwicklung ein.
Globale Unternehmen organisieren sich in Weltwirtschaftsforen, Regierungen regieren nicht mehr, weil sich die Demokratie verändert, und die Macht der Zivilgesellschaft steigt mit der Popularität der sozialen Medien. Auf gewisse Art und Weise befinden wir uns sogar in einer ähnlichen Situation wie in den späten 1960er Jahren, als wir auch verzweifelt auf der Suche waren nach Rezepten für die Zukunft.
Und wo könnte jetzt eine Lösung zu finden sein?
Wir brauchen eine Art Überraschungs-Schock-Therapie. IIASA und das Forum Alpbach formieren gerade einen globalen Thinktank aus Spitzenwissenschaftern, Top-Business-Leuten, der Spitzenpolitik und führenden Köpfen der Zivilgesellschaft. Der Thinktank soll einen Paradigmenwechsel erarbeiten und schon allein durch die Größe der Gruppe und Prominenz der Mitglieder hohen Stellenwert haben. Wenn die größten Unternehmen, bekanntesten Akademiker und politischen Spitzen ein gemeinsames Statement abgeben, an dem mehr als 300 Institutionen mitwirken, dann sollte das richtungsweisend sein.
Der Friedensnobelpreis ging 2007 an das IPCC. Doch die Weltklimaberichte haben nichts verändert. Bringt Sie das zur Verzweiflung?
Ich glaube nicht, dass Klimakonventionen die Lösung sein werden, um den Klimawandel einzudämmen. Wir bemühen uns seit Jahren darum, ich selbst habe schon als Post Doc in Kyoto im Hotelzimmer noch die letzten Kalkulationen fertiggemacht, ich habe wirklich geglaubt, dass das einen Unterschied machen würde. Das Einzige, was wirklich helfen würde, wäre, wenn kohlenstoffarme Energien den Markt erobern würden. Die Technologie, um auf nachhaltige Energien umzustellen, hätten wir jedenfalls, was uns fehlt, sind internationale Vereinbarungen und die richtige Förderpolitik in jeder Kette des Glieds.
Wir müssten Risikokapital für Start-ups in diesem Sektor auf der ganzen Welt etablieren, Ölfirmen keine Staatsförderungen mehr geben und die neuen Technologien in existierende Märkte überführen. Damit das Riesenthema Klimawandel wirklich greift, müssen wir zudem den Rahmen verändern: Am Anfang der Klimakonventionen wurden Bilder gezeigt, in denen Aktivisten Eisbären vor Wirtschaftshaien retteten. Das schockierte, rüttelte auf, war damals gut. Aber das Bild hat sich nie weiterentwickelt, sondern wir haben uns dahinter verschanzt.
Es wäre ein guter Paradigmenwechsel, den Klimawandel nicht als Bedrohung, sondern als Chance für neue Lösungen zu begreifen. Hätten wir den Klimawandel als Chance kommuniziert, die wir gemeinsam haben, sehr schnell in neue Technologien zu investieren, hätte er eine andere Position in der Wahrnehmung. Denn Kommunikation ist nicht nur sprechen und verstehen, sondern auch eine Sache zu verinnerlichen. Und was wir mögen, verinnerlichen wir.
Pavel Kabat, ist Direktor des Instituts für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg bei Wien. Der 1958 in Prag geborene Forscher ist einer der weltweit führenden Wasser- und Klimaexperten. Das IIASA betreibt interdisziplinäre Forschung auf Gebieten wie Wirtschaft, Technologie, Umwelt und Bevölkerung im Hinblick auf die humane Dimension der globalen Veränderung und stellt seine Erkenntnisse Entscheidungsträgern zur Verfügung.