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Die geballte Schwerkraft von hunderten kleinen Himmelskörpern formt das äußere Sonnensystem.
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Boulder/Wien. Im äußeren Sonnensystem verfolgen kleinere Himmelskörper unerwartete Bahnen. Statt wie die inneren Planeten hübsch brav um unser Gestirn zu kreisen, scheren sie aus. Astronomen rätseln, warum deren Umlaufbahnen vom Zentrum der Sonne losgelöst sind. Der wohl faszinierendsten Theorie zufolge zirkuliert jenseits des äußersten Planeten Neptun ein neunter Planet, der größer ist als die Erde und die Bahnen von kleineren Objekten in seiner Nähe beherrscht.
Nun versetzt eine neue Erklärung dieser Idee jedoch eine Delle. Nicht ein unsichtbarer, nie nachgewiesener Planet 9, sondern hunderte kleine Welten formen die Bahn-Geometrie in und jenseits der entfernten, eisigen Region namens Kuiper-Gürtel im äußeren Sonnensystem. Zahlreiche Brocken vom Durchmesser des Mondes sind demnach weit jenseits von Neptun unterwegs. Ihre geballte Schwerkraft zieht oder schubst einzelne Himmelskörper in unkonventionelle Bahnen. Diese These vertritt ein US-Team der University of Colorado in Boulder.
"Viele kleine Objekte und kein neunter Planet lassen andere Himmelskörper in ihrer Bahn ausscheren", betont Jacob Fleisig, der in Colorado studiert und seine Arbeit diese Woche bei einer Fachtagung der Amerikanischen Astronomischen Gesellschaft in Denver präsentiert hat.
Zusammen mit der Astrophysikerin Ann-Marie Madigan untersuchte Fleisig extreme Objekte im Sonnensystem. Zu ihnen zählt etwa der Zwergplanet Sedna, dessen stark elliptische Bahn direkt an Pluto vorbeiführt, jedoch der Sonne nie näher kommt als die 76-fache Distanz zwischen Sonne und Erde. (Neptun kreist übrigens in 30-facher Entfernung.)
Objekte wie Sedna geben Astronomen Rätsel auf. Zwar gehen sie davon aus, dass diese zusammen mit anderen Planeten und Asteroiden in der ursprünglichen Gas- und Staubwolke in Sonnennähe entstanden sind. Jedoch nehmen sie an, dass sie aus unbekannten Gründen zu einem späteren Zeitpunkt hinaus geschleudert wurden.
Objekte so groß wie der Mond
2016 hatte ein Team um Michael Brown und Konstantin Batygin vom California Intitute of Technology (Caltech) in Pasadena die Existenz eines neunten Planeten postuliert, der der Sonne nie näher kommt als die 200-fache Distanz zwischen Sonne und Erde. Seine Schwerkraft würde Objekte wie Sedna von unserem Heimatgestirn wegziehen und dadurch ihren Orbit ausweiten.
Fleisig und Madigan sind der Ansicht, dass ein neunter Planet gar nicht nötig ist und daher nicht evoziert werden müsse. Mit Hochleistungsrechnern simulierten sie, wie die Himmelskörper im Kuiper-Gürtel aufeinander wirken. Es stellte sich heraus, dass viele Welten so groß wie der Mond ähnliche Effekte wie ein neunter Planet auslösen würden. Über die Jahrmillionen würde ihre geballte Schwerkraft die Umlaufbahnen entfernter Objekte verändern. Hunderte bis tausende dieser kosmischen Brocken würden aneinanderrempeln wie Boxautos beim Autodromfahren. Die geballte Kraft könnte manche Objekte sogar in absonderliche Umlaufbahnen katapultieren. Je massiver die Himmelskörper, desto ausladender würde ihr Orbit ausfallen.
Als "sehr cool" bezeichnet Samantha Lawler, Astronomin am Herzberg Institut für Astrophysik im kanadischen Victoria, die nicht an der Studie beteiligt war, die neue Theorie. Sie sei "eine vielversprechende Erklärung für das Verhalten entfernter Welten", sagte sie am Mittwoch im Fachmagazin "Nature". Laut den Autoren könnte die Theorie auch noch weitere Geheimnisse lüften - etwa den seltsamen Orbit des jüngst entdeckten Objekts 2015 BP519, das relativ zu den Planetenbahnen in einem steilen Winkel rund um die Sonne saust. Die Simulationen würden nahelegen, dass die beschriebene Schwerkraft-Einwirkung auch den Orbit-Winkel verändern kann.
Die Erfinder der Planet 9-Hypothese geben jedoch keineswegs auf. Batygin hat nachgerechnet und hebt in "Nature" hervor, dass er dabei zu anderen Ergebnissen gekommen sei. "Ein Modell, das keinen Planeten 9 benötigt, um die abnormen Strukturen im Kuiper-Gürtel zu erklären, wäre von enormem Interesse. Wir denken allerdings nicht, dass dieses Modell ein Kandidat ist."
Astronomen haben bisher 840 eisige kleine Welten jenseits von Neptun entdeckt. 30 von ihnen kreisen in losgelösten Bahnen.