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In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen lohnt sich die Entdeckung einer alten Erzählnische: Zur Geschichte des verschlossenen Raums in der Kriminalliteratur.
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Edgar Allan Poe war 32 Jahre alt, immer noch arm und bei schlechter Gesundheit, als er 1841 "Die Morde in der Rue Morgue" verfasste. Auf knapp vierzig Seiten etablierte er damit eine neue Literaturgattung: die Detektivgeschichte. Der Protagonist in Poes Erzählung, C. Auguste Dupin, gilt als Urvater aller intellektuellen Meisterschnüffler, gleichzeitig ist der Fall, den Dupin löst, auch der Beginn einer Serie von literarischen Mörderrätseln, die später als "Locked- Room-Mystery" ("Rätsel im verschlossenen Raum") bekannt wurden: Ein mysteriöser Todesfall in einem hermetisch verriegelten Raum, den niemand betreten oder verlassen konnte. Ein Mord, dessen Ausführung unmöglich scheint.
In Poes Kurzgeschichte geschieht dieses unmögliche Verbrechen in titelgebender Rue Morgue, einer fiktiven, wegweisenden Straße in Paris ("Morgue" bedeutet "Leichenschauhaus"). Zwei Damen wurden grauenhaft ermordet, in einem Zimmer, das von innen abgeschlossen war. Ein Opfer liegt im Kamin, das andere auf der Straße, der Täter ist durch ein Fenster verschwunden, dessen Innenseite ein Nagel versperrt. Die Pariser Polizei ist sich schnell einig, dass kein Mensch diese Tat durchführen konnte. Und sie hat recht: Kein Mensch hat die beiden Frauen getötet, sondern ein entflohener, panisch gewordener Orang-Utan, der über die Regenrinne durch ein offenes Fenster gesprungen war, das sich nach seiner Flucht von selbst verschloss. Was nach einem weit hergeholten, fantastischen Plot klingt, enttarnt sich in der logischen Analyse sämtlicher Indizien als der einzig mögliche Tathergang. Am Ende jedes mystischen Rätsels in vier Wänden steht der Triumph der reinen Vernunft.
Die Tat als Katalysator

Auguste Dupin, das analytische Genie, ist dabei allen anderen überlegen, weil alle anderen von der falschen Problemstellung ausgehen. Es sei ein häufiger Fehler, lässt Poe seinen Meisterdenker anmerken, das Ungewöhnliche mit dem Abstrusen zu verwechseln. Entscheidend ist nicht die Frage: "Was ist passiert?", sondern: "Was ist passiert, das noch nie zuvor passiert ist?". In der Konstruktion solch komplexer und nie da gewesener Verbrechensrätsel wird fortan die Herausforderung für alle Schriftsteller liegen, die sich an den verschlossenen Raum wagen. Die Tat selbst dient oft nur als Katalysator: "Das Verbrechen hat nur die Funktion, den intellektuellen Prozess der Aufklärung in Gang zu setzen", schreibt Dorothea König in ihrem hervorragenden Nachwort zu Poes Erzählung. Das eifrige Rätseln während des Lesens, die eigenen Bemühungen, mit dem Detektiv Schritt zu halten, den Mörder vorzeitig zu erraten, das alles sind Grundvoraussetzungen für die anhaltende Faszination des Kriminalromans. Der besondere Reiz, der von Locked-Room-Mystery ausgeht, ist die Verschiebung vom "Wer" zum "Wie" - die Verbrechensklärung reduziert sich hier nicht auf die Suche nach dem Täter und seinen Motiven, sie interessiert sich in erster Linie für das Rätsel selbst: Wie zum Teufel konnte das Verbrechen überhaupt stattfinden?
Einer, der besonders spielerisch mit dieser Frage umgegangen ist, war Gilbert Keith Chesterton, der zeitlebens über Gott und die Welt schrieb. Größten Erfolg hatten seine Erzählungen vom Pater Brown, dem dicklichen Geistlichen mit dem unbestechlichen Verstand, die er ab 1911 publizierte. Chestertons berühmte Priesterfigur löst darin dutzende Kriminalfälle, einige auch im verschlossenen Raum. Die vielleicht schönste und ungewöhnlichste dieser Geschichten ist "Der unsichtbare Mann": Zwei skurrile Rivalen - ein kleinwüchsiger Erfinder und ein schielender Hüne - kämpfen um das Herz der gleichen Frau. Nachdem der Kleinwüchsige anonyme Drohbriefe erhält, wird ihm geraten, sich in seiner Wohnung zu verschanzen, bis der Detektiv zu Hilfe kommt. Der einzige Eingang wird von vier Polizisten bewacht. Als Pater Brown eintrifft, ist der kleine Mann dennoch verschwunden, obwohl niemand die Wohnung betreten konnte.
Die Lösung, die der gemütliche Geistliche gibt, ist ebenso simpel wie entlarvend: Der hünenhafte Rivale ist Postbote, er hat den Konkurrenten erstochen und die kleine Leiche im geschulterten Postsack weggeschafft. Die unmögliche Ausgangslage wird bei Chesterton zum britisch verschmitzten Mythoszitat: Niemand konnte die Wohnung ungesehen betreten; und der Bote war ein Niemand. Kein Polizist beachtet jemals einen Postboten - für sie ist er ein Unsichtbarer. Chestertons Ironie führt nicht nur die Regeln des Rätselratens ad absurdum, sie hält auch, ganz nebenbei, der englischen Ständegesellschaft den Spiegel vor - einer Gesellschaft, in der gewisse Berufsklassen bis heute übersehen werden.
Neben G. K. Chesterton spezialisierte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Schriftstellern auf das Geheimnis des verschlossenen Raums. 1907 hängt der französische Reporter Gaston Leroux seinen Job an den Nagel, um "Das Geheimnis des gelben Zimmers" zu schreiben, die erste Locked- Room-Mystery in Romanlänge. Im fulminanten Debüt des Mannes, der später "Das Phantom der Oper" schrieb, knackt ein gewitztes, erst achtzehnjähriges Bürschchen, genannt Rouletabille ("Rollkugel"), das Rätsel auf engstem Raum. Seine eigentliche Profession: Reporter.
Von Leroux und Chesterton direkt beeinflusst zeigte sich der Amerikaner John Dickson Carr, der weithin als Meister des verschlossenen Raums gilt. Carr, der über 90 Romane verfasste, hat sich besonders obsessiv mit der Theorie seines Lieblingsthemas beschäftigt, ganz explizit im sechsten Fall seines Stammermittlers Dr. Gideon Fell: "The Hollow Man" erschien vor 85 Jahren, sein deutscher Titel, "Der verschlossene Raum", weist den Roman schon auf dem Umschlag als Standardwerk des Genres aus; tatsächlich gibt der Detektiv im 17. Kapitel des Buches eine literaturhistorisch wertvolle, mehrseitige Abhandlung über alle möglichen Varianten und Voraussetzungen für einen "unmöglichen Fall" und wie man ihn zu lösen hat.
Abgeriegelt
Kompakter zusammengefasst wurden diese Regeln in den frühen Siebzigern vom schwedischen Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö, den geistigen Eltern der modernen skandinavischen Krimi-Elite. In "Verschlossen und verriegelt" zitiert die Ermittlerin: "Es gibt drei Hauptkategorien, A, B und C. A: Das Verbrechen ist in einem Raum begangen worden, der wirklich verschlossen und verriegelt ist, der Mörder hat ihn aber trotzdem irgendwie verlassen. B: Das Verbrechen ist in einem Raum begangen worden, der nur scheinbar hermetisch verschlossen ist. Es gibt aber mehr oder minder trickreiche Möglichkeiten, ihn ungesehen zu verlassen. C: Ein Mord, nach dem der Mörder dableibt und sich versteckt hält."

Im heimlichen Meisterwerk des Genres werden alle drei Kategorien verhandelt. Der Franzose Pierre Boileau, Sozialarbeiter von Beruf, darf sich rühmen, zusammen mit seinem Freund Thomas Narcejac die Vorlage für einen der besten Filme aller Zeiten verfasst zu haben: Doch lange bevor Hitchcocks "Vertigo" für kollektive Höhenangst sorgte, schrieb Boileau allein an einer Krimireihe um den Meisterdetektiv André Brunel. Dessen vierter Fall heißt "Sechsmal tödlich", ist 1939 erschienen und stellt die literarische Quintessenz des verschlossenen Raums dar.

Während in anderen Werken des Genres zumeist ein einziger, unmöglicher Fall im Zentrum steht, treibt Boileau das Rätselraten auf die Spitze und reiht sechs unterschiedliche Mordfälle aneinander. Alle sind sie in abgeriegelten Räumen passiert. Im Gegensatz zu Carr spielt Boileau die verschiedenen Varianten nicht nur theoretisch durch, er lässt sie zu Stationen einer dynamischen, perfekt konstruierten Schnitzeljagd quer durch Paris werden: Zuerst verschwindet der "Geistermörder" aus einem Zimmer, das von innen abgesperrt ist, dann tötet er in einem Raum, den er unmöglich betreten konnte, schließlich entkommt er aus einem Haus, dessen Eingänge allesamt umstellt sind.
Gleich wie Edgar Allan Poe (und viele andere) bedient sich Boileau eines Kunstgriffs, um die perfekt vorbereitete, überraschende Auflösung dieser unmöglichen Tode vollends auszukosten: Ein unscheinbarer Ich-Erzähler, der eine Freundschaft mit dem Meisterdetektiv pflegt, gibt die Geschichte wieder. Er folgt Brunel auf Schritt und Tritt, hinkt geistig aber dennoch meilenweit hinterher, weshalb der Detektiv ihm (und damit der Leserschaft) den wahren Tathergang am Ende minutiös aufgliedern darf.
Selbstisolation
Wie dieser André Brunel schließlich zur Lösung des Rätsels findet, das ist nicht nur brillant kombiniert, es erhält heute, während der anhaltenden Corona-Krise, auch überraschende Aktualität: Der Detektiv begibt sich in freiwillige Selbstisolation. Um das Rätsel der verschlossenen Räume zu lösen, sperrt er sich in seinem Zimmer ein: "Was auch geschieht, was auch passiert, ich möchte in Ruhe gelassen werden, und selbst wenn morgen zehn Morde begangen werden: Ich will nichts davon wissen. Keinerlei Verbindung mit der Außenwelt. Ich, nur ich ganz allein!"
Der Detektiv wird zum Autor selbst, der vollkommen in seinen Gedanken aufgeht. Als er die Tür öffnet, aus dem Zimmer tritt, nach fünfzehn durchwachten Stunden, hat er den Fall gelöst. Zuvor fehlte ihm die Ruhe, jetzt kennt er den Mörder, die Methode. Er weiß Bescheid. Dieser geistige Erfolg in selbstauferlegter Quarantäne spendet Trost in Zeiten von Social Distancing, Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen. Brunels "Ich, nur ich ganz allein!" ist hier kein Ausspruch der Egozentrik, sondern eine Notwendigkeit, ein Sieg über die Ablenkung und Zerstreuung. Ganz bei sich zu sein, das ermöglicht eine Klarheit, die ohne bewussten Weltverzicht undenkbar wäre.
So gesehen ist das Rätsel des verschlossenen Raums auch ein Plädoyer für das Innehalten und die Konzentration auf eine einzige Sache, frei von Vorurteilen und Pauschalverdacht. Die Fallgeschichten dieser heute weitgehend verdrängten Erzähltradition schärfen die Wahrnehmung auf engstem Raum, sie entzaubern das Unfassbare und zeigen die enge Verwandtschaft von Analytik und Erfindungsgabe. Ironischerweise kam der Mann, der die Locked-Room-Mystery einst erfand, selbst unter mysteriösen Umständen ums Leben: Edgar Allan Poe lag völlig verwirrt in einem Krankenzimmer, als er im Oktober 1849 verstarb. Die Todesursache ist bis heute ungeklärt.
Constantin Schwab, geboren 1988, ist österreichischer Schriftsteller.
Zuletzt erschien sein Erzählband "Der Tod des Verführers" im Sisyphus
Verlag.