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"Wirtschaftswachstum erfüllte einen Sinn in der Evolution, nun wäre Verlangsamung nötig."
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"Wiener Zeitung": Lebewesen wachsen nach der Bauanleitung im Erbgut (DNA). Dazu muss die DNA in Ribonukleinsäure (RNA) umgeschrieben werden. Verkehrt notierte Abschriften können aber die Bauarbeiten verzögern. Bakterien schreiben daher die DNA von beiden Seiten ab, ist eine neue Erkenntnis aus Ihrem Labor. Was bedeutet das?Renée Schroeder: Die DNA ist doppelsträngig. Das heißt, sie hat die Erbinformation zwei Mal: einmal in der richtigen Form und einmal in der gegensätzlichen, ergänzenden Form. Man nennt das "Sense" für die richtige und "Antisense" für die andere Form, wie Sinn und Anti-Sinn. Vom Antisense-Strang wird aber ebenfalls abgeschrieben. Die Frage ist nun, ob die an sich einsträngige RNA sich ebenfalls als Doppelstrang bilden kann in der Zelle.
Was bedeutet diese Entdeckung für den Menschen?
Wahrscheinlich kann man die Gene damit regulieren, als zusätzliche Ebene der Feinsteuerung. Man benötigt Gen-Aktivität auf sehr vielen Ebenen, weil die Menschen unterschiedlich sind und nicht alle Gene gleich oft benutzen. Wenn Sie viel Alkohol trinken, haben Sie Gene, die Ihnen helfen, den Alkohol abzubauen. Jemand, der nie Alkohol trinkt, braucht das aber nicht und die Gene schalten sich ab. Die Feinsteuerung erfolgt abhängig davon, wie oft ein Genprodukt gebraucht wird. Je mehr regulatorische Ebenen es gibt, desto besser kann diese Steuerung stattfinden. Ein Marathonläufer wird 50 Kilometer laufen können, ohne einen Muskelkater zu bekommen. Er braucht aber eine andere Genaktivität für diese Stoffwechselwege, als jemand, der sich selten bewegt.
Eine Bakterienzelle erfährt jedenfalls viel mehr Umweltveränderungen als eine menschliche Zelle. Bakterien können im Abwasser sein oder Menschen infizieren, sie müssen sich sehr schnell adaptieren. Je mehr Möglichkeiten die Zelle hat, sich an die Rahmenbedingungen anzupassen, desto großer sind ihre Überlebenschancen. Das ist einer der Hauptgründe, warum Bakterien so erfolgreich sind.
Sie sagen, in der Welt der Biomoleküle gäbe es ohne Fehler keine Evolution. Welche Fehler meinen Sie?
Wenn ein DNA-Strang verdoppelt wird, passiert ein Abschreibfehler nur in zehn hoch acht Fällen. Aber wenn er passiert, hat das eine Veränderung zur Folge. Man kann zwar nie sagen, wo die Veränderung stattfinden wird. Doch wenn das erste lebende Molekül, die erste Ur-RNA, sich fehlerlos abgeschrieben hätte, dann wäre die Welt entweder bedeckt mit einem einzigen Molekül, oder das Ur-Molekül wäre bereits gestorben.
Sind wir das Resultat von Fehlern?
Sicher. Aber es sind eigentlich nicht Fehler, sondern Variationen, die die Basis für jede Weiterentwicklung darstellen. Der Mensch bezeichnet alles als Fehler, was nicht so ist, wie er es erwartet hat, doch diese "Fehler" sind für die Evolution unheimlich wichtig. Die sexuelle Vermehrung ist deswegen so erfolgreich, weil sich zwei unterschiedliche Menschen paaren und dann sehr viele Rekombinationsmöglichkeiten entstehen.
In Ihrem neuen Buch, "Von Menschen, Zellen und Waschmaschinen", wollen Sie zur "Rettung der Welt" anstiften. Sie widmen sich den Themen Wirtschaftswachstum, Konsum, religiöse Dogmen und Geburtenkontrolle und rufen zur Entwicklung einer neuen Gesellschaft mit neuen Werten auf. In welche Richtung soll es gehen?
Keine Zelle wächst unendlich. Wenn viele Ressourcen da sind, können die Zellen schnell wachsen, bei weniger Ressourcen wachsen sie langsamer. Auf der Welt muss nun die gesamte Genaktivität anders gesteuert werden, und zwar nicht Richtung Wachstum, sondern Richtung Nicht-Wachstum. Damit meine ich nicht Stillstand, sondern eine Verlangsamung und eine andere Form der Zulieferung. 400 vor Christus waren 300 Millionen Menschen auf der Erde, genau so viele wie im Jahre null. Im Jahre 1000 gab es dann 310 Millionen Menschen, doch erst im 17. und 18. Jahrhundert wuchs die Menschheit an. Davor hatten die Frauen 2000 Jahre lang je fünf bis zehn Kinder geboren, es überlebten aber nur zwei - das nenne ich Selektionsdruck. Die Menschen wollten wachsen, aber sie konnten nicht.
Was, meinen Sie, ist schiefgelaufen?
Es gab Infektionskrankheiten und zu wenig Lebensmittel, die weder organisiert waren noch haltbar gemacht werden konnten. Zudem war es die Zeit des Monotheismus, den der ägyptische Pharao Echnaton erstmals vertreten hatte. Der Eingottglaube hat ein Ohnmachtsgefühl ausgelöst aus Angst vor einem Schöpfer-Gott, der straft. Wenn der Mensch nicht merkt, dass er sein eigener Schöpfer ist, sondern glaubt, er ist fremdgesteuert, ist er weniger kreativ. Das ist ein Riesen-Unterschied zu einer Situation, in der man weiß, dass man selbst verantwortlich ist für was man tut.
Kreativität allein führt aber nicht
zu Bevölkerungswachstum, wie wir heute in westlichen Staaten sehen.
In der Zeit der Aufklärung offenbar schon: Bakterien wurden entdeckt, Krankheitserreger sterilisiert, die Elektrizität erfunden. Das Ende der Leibeigenschaft brachte mehr Ertrag, der Mensch erkannte, dass er für seine eigene Evolution verantwortlich ist. Warum entwickelten sich Hände? Weil Menschen Steine und Werkzeuge greifen wollten. Das ist kein Bauplan der Evolution, sondern die Dinge entstehen gemäß dem Tun von Lebewesen. Der Wunsch, zu wachsen, ließ die Kindersterblichkeit sinken. Nun konnten Frauen entscheiden, wie viele Kinder sie haben wollten - der Mensch konnte die Selektionskräfte ausschalten. Nun aber muss er sich überlegen, wie weit er wachsen will. Die Wirtschaft ist unheimlich wichtig und hat einen evolutionären Sinn, aber jetzt kippt es und der Mensch ist für die Wirtschaft da. Er muss entscheiden, ob er seine Welt verbrauchen will, um dann wieder zu hungern. Denn ob man an Gott glaubt oder nicht: Wir alle tragen Verantwortung für die Zukunft.
Könnte der Rückgang der Fertilitätsrate mit einem "quorum sensing" erklärbar sein - also einem gemeinsamen Spüren, wann es genug ist mit der Bevölkerungsdichte?
Es gibt quorum sensing bei Bakterien, die kleine chemische Botenstoffe aussenden, um das Wachstum zu regulieren. Wenige Bakterien senden wenige Botenstoffe, viele Bakterien senden viele, entsprechend wird das Wachstum reguliert. Entdeckt wurde der Prozess an Tintenfischen, die Bakterien haben, die bei einer bestimmten Zelldichte leuchten. Ich frage mich, ob es zwischen den Menschen auch eine Art "Menschendichte-Messung" gibt über Pheromone oder Hormone. Man beobachtet jedenfalls überall, dass die Fertilität runtergeht.
In einer besseren Welt sollte Qualität über Quantität stehen, wobei "die weibliche Welt eine Welt der Qualität" sei, wie Sie schreiben. Muss man zur Rettung der Welt wirklich bloß die Frauen an die Macht lassen?
Wir waren in einer Wachstumsphase und sich jetzt in einer stationären Phase, jedoch in einer von hoher Qualität und das soziale Element ist im Kommen. Warum nenne ich es weiblich? Wenn man männlichen Fliegen eine Schale gibt mit Essen, kommen sie zusammen, streiten und dann verspeist der Sieger alles. Weibliche Fliegen streiten zwar auch, aber sie teilen schlussendlich das Futter. Das Egoistische ist auch bei ihnen wichtig, aber das Soziale ist stärker. In Summe halte ich es mit Kabarettist Gunkl, der sagt: Jeder Mensch soll ein bisschen mehr hergeben, als unbedingt notwendig ist, und ein bisschen weniger nehmen, als er unbedingt braucht.
Würden Frauen in Führungspositionen so handeln wie Fliegen?
So einfach würde ich das nicht sehen. Aber Frauen teilen eher, weil sie es von der Evolution gelernt haben, sie kochen und teilen das Essen aus.
Ist der Druck auf Frauen in der westlichen Welt gestiegen?
Enorm. In den 1960er Jahren haben wir uns alles erkämpft, und dann ließ man uns gewähren. Wir konnten uns überlegen was wir wollen und niemand erwartete etwas. Heute wissen alle, dass Frauen alles können, aber sie haben die Palette mit dem Kinderkriegen behalten und die Vermarktung des Körpers ist viel stärker. Der Druck, gut auszusehen, einen super Partner zu haben, einen super Beruf und super Kinder, spielte früher nie diese Rolle. Das hat auch keinen evolutionären Zweck, sondern es hat mit dem Wachstumswahn zu tun.
Sie postulieren, dass man Frauen Waschmaschinen geben sollte, damit sie Zeit haben für Bildung. Das erinnert mich an die 1950er Jahre. Was meinen Sie damit wirklich?
Die Waschmaschine ist symbolisch gedacht. Es gibt sieben Milliarden Menschen. Eine Milliarde hat Elektrogeräte, Autos und fliegt auf Urlaub. Vier Milliarden haben keine Waschmaschine. Es gibt ein Minimum-Level an Wirtschaftsentwicklung, das nötig ist, um sich überlegen zu können, wie man sein Leben gestalten will. Wenn eine Grundbildung da ist, tut man sich leichter. Denn Lernen muss man lernen, es ist nicht in unseren Genen drin.
Sie arbeiten an Ihrem nächsten Buch. Zu welchem Thema?
Mein nächstes Buch dreht sich um die Erfindung der Menschheit. Wenn man sie wissenschaftlich stellt, lautet die Frage nach dem Schöpfergott: Gibt es Systeme, die sich selbst ordne? Wir Menschen sind ein System, das sich aus sich selbst heraus entwickelt und verändert, ganz genau so wie das Universum. Natürlich bekommen wir von außen Impulse und müssen reagieren auf die Umwelt, wir sind ja nicht allein. Aber wir haben - mit Eingrenzungen - freien Willen. Ich möchte also erklären, wie sich das Genom, die Menschheit und das Ich entwickelt haben. Wie war es, als es keine Spiegel gab? Man hat sich nur gesehen im Gesichtsausdruck des Gegenübers. Wie hat der Mensch sich selbst damals wahrgenommen? Das fasziniert mich ungeheuer.
Zur Person
Renée Schroeder, geboren am 18. Mai 1953 in João Monlevade, Brasilien, ist Professorin am Department für Biochemie der Max F. Perutz Laboratories der Universität Wien und der Medizinuni Wien. Sie forscht im Bereich Molekularbiologie vor allem über die Ribonukleinsäure. Schroeder gehörte von 2001 bis 2005 der österreichischen Bioethik-Kommission an und ist Mitglied des Forschungsrats. Die Mutter zweier Söhne ist Trägerin des Wittgensteinpreises und wurde 2003 als zweite Frau wirkliches Mitglied der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, aus der sie 2012 wegen mangelnder Exzellenzförderung wieder austrat. Ihr Buch "Die Henne und das Ei" ist Wissenschaftsbuch des Jahres 2012. Ihr neues Buch, "Von Menschen, Zellen und Waschmaschinen" ist soeben im Residenz Verlag erschienen.