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Am Strand von San Diego klatschen die Wellen ans Ufer. Eine Bucht mit Palmen, die Sonne scheint, ein paar Surfer reiten ihre Wellen. In der Brandung wirft ein junger Mann Bälle für seinen Hund. Immer wieder springt der Hund in die Gischt und kommt mit dem Ball im Maul zurückgejagt. Der Mann läuft ihm entgegen, barfuß, in Shorts und Shirt. Der Hund sieht glücklich aus. Der Mann, er heißt Abelardo Rosas, auch.
"Am Meer denke ich an nichts", sagt Rosas. Es sind die Momente am Strand, in denen er frei ist, in denen die dunklen Gedanken verschwinden, zumindest für kurze Zeit. Abelardo Rosas ist 29 Jahre alt und hat den Krieg überlebt. Dass er ihn überlebt hat, hat ihn fast umgebracht.
Rosas hat eine posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS. Die Symptome: Schlaflosigkeit, Panikattacken, Flashbacks, Depressionen, Selbstmordgedanken. Bis zu 20 Prozent der US-Soldaten kommen nach offiziellen Angaben traumatisiert aus Afghanistan und dem Irak zurück. Die wirkliche Zahl könnte noch viel höher sein.
Mit verschiedenen Therapien wird versucht, den Kriegsheimkehrern zu helfen. Neue Programme setzen dabei auf ungewöhnliche Unterstützung: Hunde sollen den Soldaten helfen, über ihre psychischen Traumata hinwegzukommen. Rosas sagt, ihn habe sein Hund gerettet.
Abelardo Rosas, aufgewachsen in Texas, tritt dem Marine Corps nach der High School bei. Zwei Jahre später fliegen Terroristen mit Flugzeugen in die Türme des World Trade Center und ins Pentagon. Im Oktober 2001 fallen die ersten Bomben auf Afghanistan. In der US-Armee zu sein heißt jetzt, im Krieg zu sein.
Schäden des Krieges
Der Hauptgefreite Rosas zieht noch im selben Monat in diesen Krieg: zweieinhalb Monate Kabul, er ist damals 19 Jahre alt. Der nächste Einsatz folgt 2004, sechs Monate Afghanistan und Irak. Dann kommt der Einsatz, der alles ändern wird. Im Herbst 2005 wird er nach Falludscha geschickt, einer Hochburg sunnitischer Rebellen im Irak. Insgesamt 13 Mal wird Rosas’ Truppe in sechseinhalb Monaten angegriffen, zwei Mal wird es eng für ihn.
Das erste Mal kommt er im Helikopter wieder zu sich. Ein Sprengsatz war explodiert, sieben Minuten war er bewusstlos, musste wiederbelebt werden. Innerhalb von zwei Tagen ist Rosas zurück im Dienst. Drei Monate später wird er schwer verletzt. Die übliche Patrouille, Rosas und ein Freund blödeln über einen Kinofilm, als eine Straßenbombe explodiert. Mit dem Gesicht auf der Erde wacht Rosas wieder auf, er kann nichts hören. Er heult, schreit um Hilfe. Im Körper stecken Granatsplitter. Er kommt rechtzeitig ins Krankenhaus, überlebt ein zweites Mal.
Heute, fast fünf Jahre später, sitzt Rosas in San Diego auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer und erzählt das alles mit leiser Stimme und gesenktem Blick. Datum, Uhrzeit, die Details, an die er sich erinnert. Nüchtern, wie man etwas erzählt, das einen selbst nicht betrifft. Oder wie man etwas erzählt, das einen zu sehr betrifft. Das nur auszuhalten ist, wenn man es so erzählt, als ginge es um jemand anderen.
Es gibt noch einen Angriff im Irak, von dem Rosas erzählt. Einen, bei dem er nicht verletzt wird, der ihn aber bis heute verfolgt. "Damit hat alles angefangen", sagt Rosas. Er sitzt seit Stunden im Truck, hat Dienst an der Bordwaffe. Sein Sergeant sagt, er soll kurz Pause machen, er würde für ihn übernehmen. Rosas geht zur Toilette, raucht eine, steigt wieder ein. Einen Augenblick später explodiert eine Bombe. Der Sergeant stirbt vor seinen Augen. Es war mein Platz, denkt Rosas. Mein Platz, mein Platz, mein Platz.
Als er im April 2006 nach Hause kommt, bekommt er zwei "Purple Hearts", jene militärischen Orden, mit denen die USA ihre Soldaten auszeichnen, die im Einsatz durch den Gegner verletzt werden. Aber Rosas fühlt keine Ehre, keinen Stolz. Er fühlt nur Schuld, am Leben zu sein. Er kann nicht mehr schlafen, es frisst ihn auf. Er fängt an zu trinken, um sich zu betäuben. Trinkt immer mehr, nur damit es aufhört. Aber es hört nicht auf.
Er fährt betrunken Auto und wird erwischt. Man schickt ihn zum Arzt, der diagnostiziert sofort: posttraumatische Belastungsstörung. "Ich wollte es nicht wahrhaben", sagt Rosas. "Es ist ein Stigma beim Militär, noch immer sagen viele, es treffe nur die schwachen Männer. Und du willst eben nicht schwach sein." Ein Freund von Rosas, auch er mit PTBS diagnostiziert, sagt seinem Vorgesetzten, er könne nicht weiter eingesetzt werden. Der Vorgesetzte beschimpft ihn als Feigling. Rosas hört es mit an.
Als Rosas gefragt wird, ob alles okay sei, sagt er: ja. Das Papier mit der Diagnose hat er weggeworfen. Er kehrt zurück in den Irak. Redet sich ein, dass es schon gehen wird. Es wird sein letzter Einsatz.
Als er zurückkommt, schottet er sich immer mehr ab. Die Beziehung zu seiner Freundin Claudia, in die er sich vor seinem letzten Einsatz verliebt hat, bröckelt. "Er war so weit weg", sagt sie, "und er trank viel zu viel." Irgendwann haben sie keinen Kontakt mehr. Rosas trinkt und trinkt.
Der Wendepunkt
Eines Nachts wacht er auf - betrunken, es geht ihm schlecht, er weint und weint. Er will weitertrinken, hat aber keinen Alkohol mehr. Er geht zum nächsten Laden. Der Verkäufer gibt ihm nichts, weil er schon so betrunken ist. Rosas wird aggressiv, der Verkäufer ruft die Polizei. Als der Beamte kommt, pöbelt er ihn an. Und dann bettelt Rosas um seinen Tod. Immer wieder fleht er den Polizisten an, ihn zu erschießen.
Er wird eingewiesen, es folgen Alkoholentzug und Rehabilitationsklinik. Zum zweiten Mal wird eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Rosas kommt jetzt in ein Trauma-Programm am Veteranen-Krankenhaus in Menlo Park, Kalifornien. Dort wird bald das Programm "Paws for Purple Hearts" starten.
Soldaten mit PTBS trainieren in diesem Programm Welpen, damit diese später als Behindertenhunde arbeiten können. Der Erfinder und Leiter des Programms sitzt in seinem Büro in Silver Spring, Maryland. Rick Yount ist 49 Jahre alt, ein Hüne mit breiten Schultern und kurzrasierten Haaren.
Von der Statur her kann man ihn sich bei der Armee vorstellen, aber reden tut er wie ein Therapeut. Yount ist gelernter Sozialarbeiter. Er hat in diesem Beruf jahrelang in einem Programm gearbeitet, in dem missbrauchte Teenager Welpen ausbildeten. Dadurch wusste er, wie positiv sich die Arbeit mit Hunden bei Traumata auswirkt. Und viele der Hunde kamen nach ihrer Ausbildung zu Veteranen mit körperlichen Behinderungen.
2006, als er all die Berichte aus dem Irak hört, überlegt Yount, dass auch Kriegsrückkehrer mit PTBS die Hunde trainieren könnten. "Ich dachte: Das würde ihnen helfen. Gleichzeitig würden sie etwas für andere Veteranen tun, die die Hunde später bekommen." Er spricht mit Trauma-Zentren über seine Idee. Schließlich, im Sommer 2008, startet das Hunde-Programm in Menlo Park.
Dort ist damals seit knapp zwei Wochen Abelardo Rosas in Behandlung. Er verweigert jegliche Hilfe, ist aggressiv, streitet mit Therapeuten und Patienten. Die Ärzte haben ihm bereits mitgeteilt, dass er aus dem Programm fliegen wird. Rosas sitzt in einer Ecke, die Sonnenbrille auf den Augen, den iPod auf voller Lautstärke an, als Vegas auf seinen Schoß springt. Ein junger Golden Retriever, 32 Pfund, Kulleraugen, flauschiges Fell. "Ich habe ihn angeschrien, dass er verschwinden soll", sagt Rosas, "am liebsten hätte ich ihn weggestoßen."
Nur: Der Hund bleibt einfach, wo er ist. Und irgendwann muss Rosas über den hartnäckigen Hund lachen. "Es war mein erstes Lächeln in einer ziemlich langen Zeit", sagt er. Und dann macht er weiter, zieht das Programm durch, viereinhalb Monate lang. Zusammen mit Vegas.
Die PTBS-Patienten sollen die jungen Hunde erziehen und auf ihre Aufgaben als Behindertenhunde vorbereiten. Dafür müssen sie Gefühle zeigen. Wenn der Hund etwas richtig macht, müssen sie ihn zur Belohnung ausdrücklich loben. "Sie müssen nicht glücklich sein", sagt Yount, "aber es muss sich so anhören."
Für jemanden, der seine Gefühle lange Zeit unterdrückt hat, sei das eine Herausforderung. Zum Training gehört auch, mit den Hunden an jeden erdenklichen Ort zu gehen, also unter Menschen. Für Veteranen mit PTBS, die teilweise alle sozialen Kontakte abgebrochen haben, ein enormer Schritt. "Wenn du mit einem Hund unterwegs bist, kannst du dich nicht isolieren", sagt Yount. "Die Leute sprechen dich an."
Vegas schafft bei Abelardo Rosas, was Ärzte und Therapeuten allein nicht geschafft haben. Er öffnet sich, Schritt für Schritt. Wie sehr er sich an den Hund gewöhnt hat, merkt er erst, als auch ein anderer Veteran anfängt, mit Vegas zu arbeiten. "Ich bin immer zu ihm hin und hab gefragt: Na, wie läuft es denn so? Wie geht es Vegas? Er hat mir gefehlt."
Irgendwann geht Rosas an sein Handy, als Claudia anruft. Sie hat ihn immer wieder angerufen, auch wenn er nie abnahm. "Als er plötzlich dran ging, wusste ich überhaupt nicht, was ich sagen sollte." Aber dann reden sie. "Eine Menge über Vegas", sagt Claudia. "Er hat mir Bilder geschickt. Er und Vegas. Vegas hier, Vegas da. Er lag sogar mit im Bett."
Als das Programm endet, muss Rosas Vegas zurücklassen. Er leidet, als er im Auto wegfährt und ihn im Rückspiegel kleiner werden sieht.
Der neue Anfang
Rosas beginnt neu, als Zivilist. Er bekommt einen Job in der Personalabteilung der Navy, einmal pro Woche geht er abends zur Uni, er will einen Bachelor in Strafjustiz machen. Das Leben mit PTBS sei immer noch mühsam, sagt Rosas. Aber er habe gelernt, damit umzugehen. Und er hat Unterstützung. Claudia, mittlerweile seine Frau und Mutter ihres gemeinsamen Sohnes, hat jetzt einen Kalender. Darin hat sie all die Ereignisse eingetragen, die für Rosas wichtig sind, die Einsätze, die Angriffe, die Verletzungen. "So weiß ich sofort, warum er an manchen Tagen besonders still oder traurig ist. Es hilft mir, ihn besser zu verstehen."
Das Programm "Paws for Purple Hearts" wurde ein Überraschungserfolg in Menlo Park. Auch ein Militärkrankenhaus an der Ostküste führte es ein. Aus Vegas, der noch mit verschiedenen Veteranen gearbeitet hat, ist kein Behindertenhund geworden. Er war zu schreckhaft. Deshalb hat Yount ihn Anfang 2010 Rosas gegeben. Es habe einfach gepasst zwischen den beiden, sagt er.
Nicola Meier, geboren 1979, lebt als freie Journalistin in Hamburg. Mit einem Nachwuchs-Stipendium hat sie eine Zeit lang in den USA gearbeitet. Sie schreibt vor allem Porträts und Reportagen.