Zum Hauptinhalt springen

Viertelgötter in Weiß

Von Martin Tschiderer

Politik

Pflegekräfte stehen oft im langen Schatten der Ärztinnen und Ärzte. Die Corona-Pandemie führte bei ihnen zu Überlastung und verstärkter Abwanderung in andere Berufe.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Als Christoph Wenisch Ende des Jahres die Faust hob, ging das Bild um die Welt. Am 27. Dezember erhielt er seine erste Corona-Impfung. Den Moment, als er vor Freude darüber triumphierend den Arm in die Höhe riss, hielt ein Fotograf fest. Kurz darauf sahen das vielfach geteilte Foto Menschen von London bis New York. Dass in diesem denkwürdigen Moment überhaupt eine Kamera dabei war, hatte einen Grund: Wenisch ist Arzt. Der Infektiologe an der Klinik Favoriten bekämpft seit Beginn der Pandemie das Virus unermüdlich an der Front - und informiert mitunter spätabends als beliebter TV-Gast das Fernsehpublikum auch noch über die Eigenheiten von Sars-CoV-2.

Aber nicht nur Wenisch und seine Ärzte-Kolleginnen und -Kollegen stehen seit Beginn der Pandemie bis zur Erschöpfung ganz vorne an der Front; auch eine Berufsgruppe, die traditionell deutlich weniger im Fokus der Öffentlichkeit steht: das Gesundheits- und Krankenpflegepersonal. Laut einer aktuellen Studie hat die Pandemie bei den Arbeitsbedingungen der Pflegerinnen und Pfleger in Spitälern große Einschnitte gebracht. In der Umfrage gaben 86 Prozent an, ihre Arbeitssituation habe sich mit dem Ausbruch der Pandemie massiv verschlechtert. Für die vom Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGKV) unterstützte Studie wurden zwischen 30. März und 24. April, also inmitten der dritten Corona-Welle, 2.470 Pflegerinnen und Pfleger in heimischen Krankenhäusern befragt.

"Wenn die Kamera da ist, impfen natürlich Ärzte"

Und noch ein weiteres Ergebnis der Erhebung sticht ins Auge: Mit 45 Prozent denkt fast die Hälfte des Akut-Pflegepersonals darüber nach, den Beruf zu wechseln. Weitere 5 Prozent sind bereits in konkreten Planungen zum Berufsausausstieg oder setzen diesen gerade um. Als Gründe für einen möglichen Jobwechsel nennen 56 Prozent der Befragten den niedrigen Lohn und 47 Prozent wenig Wertschätzung für ihre Arbeit. 44 Prozent geben den Faktor Personalmangel an, 41 Prozent die hohe Arbeitsbelastung und 36 Prozent die hohe psychische Belastung. Aber warum sind diese Werte so hoch? Und droht angesichts dieser Zahlen ein massiver Mangel an Pflegern in Krankenanstalten?

"Das Problem ist ein strukturelles", sagt ÖGKV-Präsidentin Elisabeth Potzmann zur "Wiener Zeitung". "Und wir nehmen es schon seit Jahren bis Jahrzehnten mit." Es gehe vor allem um eine vom Pflegepersonal empfundene Verteilungsungerechtigkeit, die sich großteils auch objektivieren lasse. Viele Pflegerinnen und Pfleger hätten das Gefühl, dass andere Player im Gesundheitssystem bessergestellt seien, auf sie selbst dagegen vergessen werde. Das beziehe sich etwa auf das Gehalt, aber auch auf das Dienstplansystem mit 12,5-Stunden-Diensten an Sonn- und Feiertagen und 365 Tagen im Jahr Bereitschaft. "In jungen Jahren ist das mitunter noch attraktiv, weil die Zulagen verhältnismäßig hoch sind", sagt Potzmann. Mit Betreuungspflichten sind diese Arbeitszeiten allerdings nur schwer vereinbar. Und ein vergleichbares Gehalt mit besseren Dienstzeiten gibt es in manch anderer Branche auch für weniger Belastung und Verantwortung.

Die Problemlage besteht laut der ÖGKV-Präsidentin nicht nur in der Akut-Pflege in Krankenhäusern, sondern auch in anderen Pflege-Bereichen, die die jüngst veröffentlichte Studie aus Ressourcengründen gar nicht erhoben hat. Der Intensivbereich in Krankenhäusern ist personell noch am besten besetzt. Je weiter man sich von der Hochakut-Pflege wegbewegt, etwa in die (mobile) Langzeitpflege, desto schlechter wird nicht nur die Bezahlung, sondern auch die Personalausstattung.

Die Dauerbelastung der Pandemie hat diese auch zu "Normalzeiten" bestehenden Probleme noch massiv verstärkt. Pflegekräfte wurden in der medizinischen Ausnahmesituation auch häufig für Aufgaben abseits ihres eigentlichen Tätigkeitsfeldes eingesetzt, was bei Ärztinnen und Ärzten aufgrund ihrer Spezialisierung kaum der Fall ist. So musste Pflegepersonal im vergangenen Jahr auch schon einmal den Physiotherapeuten kompensieren, der pandemiebedingt nicht kommen konnte, oder bei Höchstauslastung der Ärztin assistieren. Leistungen, die aber oft nicht sichtbar werden. In den Wiener Impfstraßen etwa immunisiert praktisch ausschließlich diplomiertes Pflegepersonal. "Wenn die Kamera da ist, impfen aber natürlich Ärzte", sagt Potzmann. In der Pandemie hätten Pfleger oft das Gefühl gehabt, den ganzen Tag gearbeitet zu haben, aber zu ihren eigentlichen Aufgaben kaum gekommen zu sein. Ein Kreislauf, der schnell zu Überlastung und Burn-out führen kann.

Wenige Bewerbungen auch für Führungspositionen

Einen Mangel an Pflegekräften gibt es auch außerhalb der Pandemie. Die Umsetzung der Pflegereform durch die türkis-grüne Bundesregierung verzögert sich. Eine Studie kam zum Schluss, dass bis 2030 bis zu 100.000 Vollzeit- und Teilzeitkräfte fehlen. Die Drop-out-Quoten im Beruf sind zudem auch unabhängig von Corona hoch. Reagiert habe man auf den Personalmangel laut Potzmann vor allem mit einem "Herunterschrauben" und einer Verkürzung der Ausbildung beziehungsweise mit der Rekrutierung von Pflegepersonal aus dem Ausland. Die Abwanderungsbewegungen aus der Pflege seien am Arbeitsmarkt deutlich spürbar. Für so manche ausgeschriebene Stelle gebe es nicht eine einzige Bewerbung. Das gilt laut Potzmann mittlerweile sogar für Führungspositionen: "Bei Personalmangel auch noch die Management-Verantwortung zu tragen, wollen sich nur die wenigsten antun."

Auch Markus Mattersberger, Präsident des Bundesverbands Lebenswelt Heim, kann das bestätigen. Der Verband vereint unter seinem Dach acht Landesorganisationen mit rund 650 Alters- und Pflegeheimen und 40.000 Mitarbeitern. Nicht nur in der Akut-Pflege in Krankenhäusern, auch in der Langzeitpflege in Heimen sei die Situation "dramatisch", sagt Mattersberger zur "Wiener Zeitung". Arbeitsbelastungen für Pflegekräfte seien hoch, Abwanderungsbewegungen intensiv. Die Krankenstände seien seit Pandemiebeginn zudem deutlich angestiegen.

Keine Streiks wie unter Eisenbahnern

Aus den Krankenanstalten der Länder klingt das mitunter ein wenig anders. "Wir haben eher das Phänomen, dass sich viele bei uns bewerben", heißt es etwa aus den Kliniken Tirol gegenüber dieser Zeitung. Erstens würden zahlreiche Personen, die in der Langzeitpflege tätig sind, auf Akut-Pflege in den Spitälern umschwenken wollen. Zweitens langten viele Bewerbungen aus anderen Bundesländern ein. Erhöhte Zahlen an Burn-outs oder Krankenständen seien dagegen nicht zu verzeichnen. Auffällig seien nur besonders viele Schwangerschaften unter Mitarbeiterinnen von Covid-Stationen im vergangenen Jahr.

Auch in der Burgenländischen Krankenanstalten Gesellschaft (Krages) berichtet man auf Nachfrage, es habe während der Pandemie keine nennenswerten Abwanderungen gegeben. Die Pflegestellen seien so gut wie voll besetzt. Nur zwei Pflegerinnen, die damals neu im Job waren, hätten die Landeskliniken nach der ersten Corona-Welle verlassen. Die Krankenstände seien auch während der Hochphasen nicht gestiegen, inzwischen zeige sich aber bei vielen Pflegekräften die Erschöpfung aus dem fordernden Jahr. Für den Sommer ist daher gezielter Abbau von Überstunden geplant. Wobei zeitgleich auch die Corona-bedingt aufgeschobenen Operationen nachgeholt werden müssen, was die Dienstplanung doch zu einer Herausforderung macht.

Um die Situation in der Pflege insgesamt zu verbessern, helfe es jedenfalls wenig, die Ausbildung wieder zu verkürzen und das Niveau zu senken, sagt ÖGKV-Präsidentin Potzmann. "Die begonnene Akademisierung der Branche müssen wir weiter betreiben." Andernfalls würde die Drop-out-Quote aus dem Beruf später erst recht ansteigen. Um das zu verhindern, sei es sinnvoll, Pflegekräften Fachkarrieren zu ermöglichen und Anreize dafür zu setzen. Von selbst werde sich an der Situation jedenfalls nichts ändern. Dabei spiele auch die Sozialisation von Pflegekräften in ihrem helfenden Beruf eine Rolle. So führten sie in der Regel keine Berufskämpfe mit Streiks aus, wie etwa die Eisenbahner. "Im Fokus der Pflegekräfte stehen meist nicht die eigenen Bedürfnisse und Grenzen", sagt Potzmann. "Sondern die Verantwortung für das Gesundheitssystem und die Patienten."