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Der Rektor der Central European University, die ins Fadenkreuz Orbáns geriet, über Orbánismus und Ungarns Rolle in der EU.
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"Wiener Zeitung": Sie sind Rektor der Central European University in Budapest, die vor einem Jahr Zielscheibe von Viktor Orbán war. Was hat Orbán gegen Sie?Michael Ignatieff: Wir sind deshalb ein Ziel, weil wir eine freie, unabhängige Institution sind. Wir sind selbstverwaltet, unabhängig von der Regierung, privat finanziert. Wir existieren seit 25 Jahren in Budapest. Wir sind keine politische Opposition und keine politische Organisation. Vor einem Jahr wurde ein Gesetz vorgelegt, das es uns sehr schwer gemacht hätte, hier in Budapest zu bleiben. Wir empfanden dies als Angriff auf die akademische Freiheit. Es gab damals einen großen öffentlichen Aufschrei, in Budapest gingen allein 70.000 Menschen auf der Straße. Dann gab es eine Suche nach einem Kompromiss. Das Ergebnis dieses Kompromisses liegt nun seit neun Monaten auf dem Tisch des Premierministers, aber er hat das Kompromisspapier bis heute nicht unterschrieben. Wir hoffen, dass Premier Viktor Orbán nach den Wahlen diesen Kompromiss absegnet. Wir fühlen uns in Budapest daheim, haben nichts falsch gemacht, wir fordern das Regime nicht heraus, aber wir lassen auch nicht zu, dass wir einfach herumgeschubst werden.
Eine gewisse Zeit hat es so ausgesehen, als würde die Universität nach Wien flüchten.
Nein, keineswegs. Wir wollen in Budapest bleiben. Tatsache ist, dass wir in Wien einen weiteren Campus eröffnen wollen. Mit der Stadt Wien und der Bundesregierung sind wir bereits im Gespräch und wir haben bereits ein Übereinkommen unterzeichnet. Wenn alles glattgeht, werden wir ab 2019 in Wien präsent sein.
Gibt es eigentlich so etwas wie Orbánismus, eine Orbán-Ideologie?
Daran gibt es keinen Zweifel. Je länger dieses Regime an der Macht bleibt, desto mehr versucht es, seine Ideologie zu verfeinern und seine Interpretation der ungarischen Geschichte zu propagieren: "Ungarn ist ein großartiges Land, das in Trianon betrogen wurde." "Ungarn ist ein großartiges Land, das versucht hat, den Nazis entgegenzutreten - bis es eben nicht mehr konnte." "Ungarn ist ein Land, das von den Kommunisten unterjocht wurde und jetzt endlich seine Freiheit wieder gefunden hat." "Ungarn ist ein Land, das sich als Verteidiger der christlich-abendländischen Tradition gegen Brüssel ankämpft und sich den aus Nordafrika und dem Nahen Osten herandräuenden Horden in den Weg stellt." All das bildet das Surrogat der Ideologie, an der Viktor Orbán bastelt. Diese beruht vor allem auch auf einer ständigen Kultivierung von Feinden: gegen Brüssel, gegen Liberalismus, gegen Gleichberechtigung, gegen Multikulturalismus, gegen dies und gegen das. Die Frage, wofür diese Ideologie steht, ist schon schwerer zu beantworten: christliche Werte, Familie, "Ungarn den Ungarn", "Ungarn gegen den Rest der Welt". Das ist doch alles recht dünn. Die Frage ist, ob das den Ungarn auf die Dauer reicht. Nach dem Wahlgang am Sonntag wissen wir mehr.
Wofür steht Viktor Orbán?
Eine gute Frage: Ist er der Anführer einer konservativen Konterrevolution? Oder ist er nur einer in einer Reihe von mittlerweile mehreren europäischen Machthabern, der sich von einer bestimmten politischen Strömung treiben lassen, weil sie glauben, dass das zum politischen Erfolg führt? Die Zurückweisung des Multikulturalismus ist nicht zuletzt das Ergebnis eines Spiels mit Sorge der Menschen um die ungarische Identität. Trotz einer veritablen Demografiekrise - mit einer stark schrumpfenden Bevölkerung - und dem durch die Auswanderungswelle qualifizierter Ungarn mitverursachten Arbeitskräftemangel führt Orbán den Slogan "Ungarn den Ungarn" im Mund. Seine Botschaft ist jedenfalls: "Ungarn ist in Gefahr! Nur ich bin es, der dieses Land retten kann!" Aber man sollte auch trotz Orbáns litaneihaft vorgetragener Kritik an der Europäischen Union nicht vergessen, dass es in Ungarn mehr Unterstützung für die Europäische Union gibt als in anderen EU-Ländern. Die Regierung hier ist die antieuropäischste Regierung jenes Landes mit der proeuropäischsten Bevölkerung der EU.
Sie sind der Rektor einer Universität hier in Budapest. Jüngerere, besser gebildete Ungarn haben längst über ihre Regierung abgestimmt: mit ihren Füßen. Zigtausende haben das Land verlassen.
Der Schengen-Raum hat sich zum Sicherheitsventil entwickelt. Wenn es einem in Ungarn nicht gefällt, dann kann man ja gehen. 500.000 haben das getan. Das ist ein Zeichen dafür, dass diese Gesellschaft die Wünsche und Hoffnungen des dynamischsten Teiles der Bevölkerung - der jungen, qualifizierten Leute - nicht erfüllen kann. Und so ist Europa zum unfreiwilligen Helfer dieses Regimes geworden. Die Union muss sich die Frage stellen, ob nicht die Milliarden von Strukturmitteln und die Möglichkeit für Ungarn in der EU zu arbeiten, Orbán dabei hilft, seine Regierung zu stabilisieren. Und die EU muss sich die Frage stellen, ob man mit Regimes zusammenarbeiten kann, die die europäischen Normen verletzen und gleichzeitig Europa benutzen, um die Unzufriedenheit im eigenen Land zu besänftigen. Ich glaube aber nicht, dass man in einem Europa leben will, in dem osteuropäische Regimes am Ruder sind, die offen gegen Brüssel revoltieren, die von Montag bis Freitag gegen europäische Werte rebellieren und dann Samstag und Sonntag die Schecks aus Brüssel einlösen. Das werden die Steuerzahler in Deutschland, Frankreich und Österreich wohl auf Dauer nicht zulassen.
Viktor Orbáns Fidesz ist Mitglied der Europäischen Volkspartei und damit im Kreis der Familie der europäischen Konservativen - auch wenn es immer wieder Kritik auch von dieser Seite an ihm gab.Die Frage lautet, ob Orbáns Konservativismus auch der Konservativismus der europäischen Konservativen ist. Findet Orbán Inspiration beim legendären bayrischen CSU-Politiker Franz Josef Strauß oder beim türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan?
Wie ist Ungarn zum im Westen ungeliebten EU-Mitglied geworden?
Der Westen hat nach 1989 den Gegensatz - hier der kultivierte, zivilisierte, elegante, kluge Westen, dort der primitive, zurückgebliebene Osten - kultiviert. Das war zutiefst arrogant. Dazu kommt, dass das europäische Projekt nicht wirklich einen Raum für kleinere Länder bietet. Ungarn ist da gar nicht so einzigartig. Denken Sie an Dänemark: eine fantastisch erfolgreiche Gesellschaft, ein hervorragender Wohlfahrtsstaat von der Wiege bis zur Bahre. Wer möchte nicht in Kopenhagen leben? Aber: Der Widerstand gegen Migration, der Widerstand gegen Multikulturalismus, der Widerstand gegen Europa ist dort fast so stark wie jener in Ungarn. Kleine Nationen sind eben sehr stark auf ihre nationale Identität fokussiert. Österreich hat es da leichter. Das Land hat sich sehr gut im deutschsprachigen Raum integriert, Wien ist eine tolle, kosmopolitische, internationale Stadt - ein regionales Business-Zentrum. Die Österreicher sind auch nicht so verrückt nach Österreichertum. Österreich hat etwas geschafft, das viele andere kleine Länder nicht geschafft haben.
Wie wird es nach der Wahl am
8. April weitergehen?
Wenn man den Wahlkampf verfolgt hat, dann hat man ja fast den Eindruck gewonnen, dass George Soros und die Migranten für alle Probleme in Ungarn verantwortlich sind und es gar keine Probleme im Gesundheitssystem, im Bildungssystem oder mit der Verkehrsinfrastruktur gibt. Wenn Orbán einen Erdrutschsieg einfährt, wird er seine Linie verschärfen. Wenn er allerdings einen Dämpfer bekommt, dann könnte das den Beginn eines langsame Zerfallsprozesses seines Regimes markieren.
Zur Person
Michael Ignatieff
(geboren 1947 in Toronto) ist ein kanadischer Historiker, Autor, Journalist und Politiker. Er war
von 2008 bis 2011 Vorsitzender der Liberalen Partei Kanadas und somit Oppositionsführer. Davor war er als Journalist, Autor und politischer Kommentator tätig. Seine akademische Karriere: Professuren an den Universitäten Cambridge, Oxford, Harvard und der University of Toronto. Heute ist er Rektor der Central European University in Budapest.