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Virginia, Erfurt, Columbine: Und täglich grüßt der Tragödien-Reflex

Von Bernhard Baumgartner

Analysen

Es war alles bekannt: Die bluttriefenden Gedichte, die der 23-jährige Cho Seung Hui geschrieben hatte. Die Depressionen, an denen er litt. Seine Angewohnheit, Kolleginnen nachzustellen. Das Faktum, dass ihn eine Professorin als gefährlich erkannte und aus dem Unterricht nahm. Und natürlich war Waffenhändler und Behörden bekannt, dass der Südkoreaner ohne Grund - und vor allem, ohne dass den Psychiatriepatienten jemand daran gehindert hätte - zwei Waffen kaufte.


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Trägt man diese Fakten zusammen, ist die Analyse klar: Hier muss alles versagt haben, was versagen konnte. Man könnte sogar meinen: Irgendjemand hat hier mitverschuldet, dass 33 Menschen sterben mussten. Schlamperei, Ignoranz und Skrupellosigkeit (je nachdem) könnte man den einzelnen agierenden Menschen - oder Organisationen - vorwerfen.

Doch in Wahrheit ist die Diskussion müßig, denn es hatte niemand agiert, weil schlichtweg niemand das gesamte Bild des scheuen Täters kannte. Wo wäre denn der Punkt gewesen, wo man (wer eigentlich?) einschreiten hätte müssen? Ist jeder verliebte Stalker ein potenziell gefährlicher Massenmörder? Muss jeder Depressionspatient überwacht oder am besten eingesperrt werden? Gehört jeder Autor von Blutopern sofort in die geschlossenen Anstalt? Muss man den Erwerb von Waffen verbieten?

In gewissem Sinne ist die Debatte, die nun wieder losbricht, symptomatisch für die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft mit solchen Katastrophen umgehen. Nicht das tragische Einzelschicksal steht im Mittelpunkt, nicht das Entsetzen darüber, dass so eine Bluttat passieren kann, sondern die Suche nach dem Schuldigen steht im Vordergrund. Diagnose und Therapieverordnung erfolgen binnen weniger Stunden: Amoklauf? Waffen verbieten! Schülermord? Computerspiele abschaffen! Nachahmungstäter? Fernsehen und Film zensurieren!

Nach jeder Tat werden reflexartig dieselben undifferenzierten Forderungen laut, ohne dass sich je wer die Mühe gemacht hätte, darüber nachzudenken, ob diese Maßnahmen denn die aktuelle Tragödien verhindern hätten können und somit die Zukunft sicherer machen. Dass die Amerikaner nun über ein (aus vielen Gründen sicher dringend notwendiges) Waffenverbot diskutieren, braucht den Präsidenten nicht zu wundern, machte er es doch selbst vor: Immerhin musste als Reaktion auf den Terrorschock aus heutiger Sicht ziemlich unreflektiert das nächstbeste Land platt gemacht werden.

Die Menschen sind (und das wissen wir nicht erst seit Neil Postman) mit der Aufarbeitung der immer schneller werdenden Nachrichtenflut überfordert. Diese findet nur mehr per im Expressgang ausgefertigten Pauschalurteilen statt, zugestellt frei Haus durch die Medien. Nur dass deren Macher selbst am allerwenigsten Zeit zur Reflexion der Marschrichtung haben, die sie tagtäglich propagieren. Vielleicht ist genau das der Punkt, an dem man einmal nachzudenken beginnen sollte.