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Virtuelles Gedenken in Zeiten von Corona

Von Karl Semlitsch und Roland Vogel

Gastkommentare
Karl Semlitsch gehört der Nachkriegsgeneration an (Jahrgang 1944) und ist Generalstabsoffizier im Ruhestand.
© privat

Frankreich und Österreich haben vorgezeigt, wie eine europäische Gedenkkultur zur Kriegsgefangenschaft aussehen kann.


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Gemeinsames Gedenken verlangte bisher gemeinsame Anfahrten zum Gedenkort, Versammeln vor Ort, Ansprachen, feierliche Musik, Kranzniederlegung und anschließend Zeit fürs Beisammensein. Die Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Heimkehr französischer Offiziere aus der Kriegsgefangenschaft (1940 bis 1945) war in diesem Sinne vorbereitet worden. Stattfinden sollen hätte sie am 17. April im Waldviertel inmitten des heutigen Truppenübungsplatzes Allentsteig, am Ort des ehemaligen Offizierskriegsgefangenenlagers "OFLAG XVIIA" in Edelbach.

Doch dann änderte die Corona-Krise alles, in Österreich, in Frankreich und in Europa. 2018 hatte es in Edelbach eine würdige Gedenkfeier in Österreich mit der französischen Botschaft, der österreichischen und französischen Armee, der "Partner aller Nationen" Österreichs, der Österreich-Französischen Vereinigung und der Österreich-Polnischen Gesellschaft gegeben. Doch 2020 war alles anders.

Die französische Vereinigung "Mémoire et Avenir", die sich der französischen Kriegsheimkehrer angenommen hatte, veranstaltete am 17. April um 12 Uhr eine europäische virtuelle Gedenkveranstaltung. Sie verband online Teilnehmer aus Frankreich, Österreich, Deutschland, Belgien und Tschechien. Das ist gelebte Gedenkkultur im europäischen Maßstab. Eingeleitet mit einer stillen Gedenkminute, der "Marseillaise" und der geistigen Auseinandersetzung über grundsätzliche Fragen zum Sinn des Gedenkens in der heutigen Zeit und welche Lehren für künftige Generationen daraus geschöpft werden können.

An dieser virtuellen Gedenkfeier nahmen mehr als an jedem anderen Heimkehrergedenken teil, und es ist anzunehmen, dass die Generation der Enkelkinder mehr als je zuvor darüber und über den europäischen Gedanken mitbekommen hat. Und vielleicht ist es ein nachhaltiger Anstoß, durch virtuelles Gedenken auch in Zeiten von Einschränkungen und darüber hinaus völkerverbindende und generationenübergreifende Ideen aufrechtzuerhalten.

Millionen Kriegsgefangene nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Kriegsgefangenschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg ist mehr als eine Randerscheinung, denn in keinem Krieg davor und danach wurden so viele Kriegsgefangene gemacht und diese oftmals jahrelang in großen Lagern gefangen gehalten. Auch auf österreichischem Gebiet gab es während des Zweiten Weltkrieges viele Kriegsgefangenenlager, hier waren besonders viele Franzosen interniert.

Am 27. April 1945 verkündete eine provisorische österreichische Regierung die Wiederauferstehung der Republik Österreich und vollzog damit noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges den lautstarken "Austritt Österreichs aus dem Deutschen Reich". In diesen Endtagen des Zweiten Weltkrieges bewegten sich auf österreichischem Gebiet mit rund sechs Millionen Bewohnern in Summe weitere rund drei Millionen Soldaten der Deutschen Wehrmacht mit ihren Verbündeten, Soldaten der vier Alliierten, Flüchtlinge vor allem aus Osteuropa, Vertriebene, Zwangsarbeiter, Deportierte, aus den Konzentrationslagern Befreite sowie viele Kriegsgefangene aus den Kriegsgefangenenlagern der deutschen Wehrmacht.

Vieles ist in die Erinnerungskultur aufgenommen worden, oftmals gut erforscht, manchmal mühsam öffentlich bekannt gemacht und einiges kaum beachtet. Das "kaum beachtet" trifft auch für die Kriegsgefangenschaft im und nach dem Zweiten Weltkrieg zu, obwohl Millionen von einberufenen Soldaten aus allen Kriegsparteien davon betroffen waren.

Das größte Offizierskriegsgefangenenlager im Dritten Reich

Was nun die französischen Kriegsgefangenen in Österreich betrifft, so hatte Frankreich ab dem 2. September 1939 fast fünf Millionen Männer im Alter von 18 bis 48 Jahren mobilisiert, von denen rund die Hälfte direkt in Kampfeinheiten eingesetzt worden waren. Nach der Niederlage im "Blitzkrieg" vom Mai/Juni 1940 wurden rund 1,8 Millionen Franzosen im Gebiet des Dritten Reiches in Offiziers- und Mannschaftsstammlagern als Kriegsgefangene gemäß Genfer Konvention von 1929 gefangen gehalten. Sie kamen aus allen sozialen Schichten, aus allen Landesteilen und auch aus den Kolonien.

Im niederösterreichischen Waldviertel befand sich in Edelbach (auf dem Gebiet des heutigen Truppenübungsplatzes Allentsteig) von 1939 bis 1945 das "OFLAG XVIIA", das zum größten Offizierskriegsgefangenenlager im Dritten Reich wurde. In Summe wurden dort rund 6.000 französische sowie etwa 170 polnische Offiziere in rasch erbauten Holzbaracken zusammengepfercht und jahrelang gefangen gehalten. Besonders bemerkenswert ist das Bemühen der Franzosen, die Moral trotzdem aufrechtzuerhalten, insbesondere durch die Betreibung einer "Lageruniversität" und durch den zahlenmäßig umfangreichsten Fluchtversuch aus einem Offizierskriegsgefangenenlager des 3. Reiches im September 1943.

Ausgelöst durch den Vormarsch der Roten Armee wurde am 17. April 1945 ein Evakuierungsmarsch des "OFLAG XVIIA" in Richtung Südböhmen angetreten. Nur die Marschunfähigen und jene, die sich geweigert hatten, das sichere Lager zu verlassen, wurden in Edelbach belassen und am 9. Mai 1945 von der Roten Armee befreit.

"Gratzener Odyssee" quer durch das Waldviertel

Ein Teil des Evakuierungsmarsches wurde später als "Gratzener Odyssee" quer durch das Waldviertel nach Engabrunn bei Krems und wieder zurück nach Gmünd bezeichnet, weil Gratzen (heute Nové Hrady) die erste längere Raststation war und ein Teil der Franzosen von der Roten Armee von dort weg in Richtung Odessa gebracht werden sollte - eine Absicht, die durch einen mutigen Franzosen vereitelt werden konnte. Weitere bedeutsame Stationen waren der Raum von Kaplice in Südböhmen und Hörsching, und zuletzt kehrten alle per US-Bombern oder US-Lkw bis Mitte Juni 1945 nach Frankreich zurück, vereinzelte sogar erst im Juli und September 1945.

Die Heimkehrer wurden offiziell demobilisiert und konnten dann ins zivile Leben zurückkehren. Nach fünf Jahren Kriegsgefangenschaft musste diese Generation ein neues Leben mit ihren Familien und ihrem Staat aufbauen. Da der Wiederaufbau Frankreichs Priorität hatte, dort die Mitglieder der Résistance und die aus den KZ zurückgekehrten "Deportierten" das Sagen hatten und das französische Weltreich im großen Umbruch war, rückte diese Kriegsgefangenschaft in die Nähe der Themen, die "von der Geschichte vergessen" wurden.

Erinnern und Erfahrungen weitergeben

Doch basierend auf einem Gesetz vom 1. Juli 1901 bildete sich noch 1945 unter dem Titel "Mémoire et Avenir" eine Vereinigung der kriegsgefangenen Offiziere, die sich seither um deren Familien annimmt. "Mémoire et Avenir" pflegt die "Mémoire", die Erinnerung, und die "Avenir", die Weitergabe der Erfahrungen, schwere Zeiten durchzustehen, und die Begegnungen vor Ort in den Lagern im europäischen Geiste. Es geht um konkrete Hilfestellungen in allen Generationen, um die Vermittlung von Erkenntnissen, wie solche außergewöhnliche Situationen der Isolation und der Belastung durchgestanden werden können, und um ein würdiges Gedenken an die Betroffenen der Französischen Armee und an ihren Anteil am Wiederaufbau von Frankreich. "Mémoire et Avenir" hat hiezu ein Netzwerk von Ausstellungen, Bulletins, virtuellen Museen und Begegnungen vor Ort in den ehemaligen Offizierslagern aufgebaut. Dazu gehört auch das "OFLAG XVIIA" in Österreich, in dem zuletzt 2018 eine gemeinsame Gedenkfeier abgehalten wurde, die nun heuer virtuell stattfand.

Kam 1945 das Ende der Kriegsgefangenschaft für die Franzosen, war es 1945 für die meisten Österreicher der Beginn der Kriegsgefangenschaft. Nicht als Freiwillige, sondern als Wehrpflichtige waren sie seit dem 12. März 1938 bis zum Kriegsende für die Deutsche Wehrmacht rekrutiert worden. Die erste größere Zahl österreichischer Kriegsgefangener gab es nach der Schlacht um Stalingrad ab Februar 1943. Die meisten Österreicher kamen mit Kriegsende im April/Mai 1945 in amerikanische, sowjetische, britische, französische und jugoslawische Kriegsgefangenschaft, die sehr unterschiedlich verlief und unterschiedlich lange dauerte. Für einzelne Kriegsgefangene wurde die Heimkehr erst mit Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955 ermöglicht.

Die Heimkehrer fanden ihre Familien, ihre Arbeitswelt und sich selbst verändert vor und bauten tatkräftig am Aufbau eines neuen demokratischen Österreich mit. Dafür gebührt ihnen nach allem, was sie erlebt und erlitten haben, unser Respekt.