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Vögel ziehen in die Fremde

Von Michael Cerha

Reflexionen

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Der Unmut einer unterdrückten Bevölkerung nährt sich nicht nur von jahrelanger leidvoller Erfahrung, sondern - gerade im Moment des Ausbruchs - oft auch von unmittelbaren Bildern. Mohammad Al Bouzizi, der 26-jährige arbeitslose Akademiker, dessen einzige Einnahmequelle der Straßenverkauf von Gemüse war, und dem die Polizei mit seinem Holzkarren die Lebensgrundlage beschlagnahmt hatte, hat mit seiner Selbstverbrennung auf dem Rathausplatz in Sidi Bouzid Mitte Dezember 2010 wohl das elementarste aller Bilder geschaffen, die der Bewegung zum Sturz des tunesischen Langzeitdespoten Ben Ali zugrunde lagen.

Es waren aber auch literarische Bilder, die den Aufstand emotional unterlegten: darunter vier Verse des 1909 geborenen und nur 25-jährig verstorbenen Lyrikers Abu Al-Qassem Al-Shabbi, die von den jugendlichen Massen bei ihren Protesten immer wieder gesungen wurden. In schönem Arabisch verfasst, verkünden sie in unerschütterlicher Gewissheit, was auf Deutsch ungefähr bedeutet: Wenn das Volk eines Tages das Leben verlangt, kann sich das Schicksal nur fügen, die Nacht nur zerstreuen und die Fessel nur lösen.

Als Ben Alis „Lieblingsfeind” galt der heute 50-jährige Schriftsteller und Journalist Ben Krik. Dieser hatte es 2003 und 2009 gewagt, als Gegenkandidat gegen ihn zu sogenannten Präsidentschaftswahlen anzutreten, deren gefälschte Ergebnisse haushohe Erfolge für Ali erbrachten. 2009 warb Krik für sich mit dem Gag, dass Ben Ali, „der scheidende Präsident”, ihn als seinen Nachfolger empfehle. Die Unterschrift auf den Plakaten war von Krik selbst gefälscht. Das war zuviel. Nachdem der Despot die Wahl mit dem üblichen Triumph gewonnen hatte, verschwand Ben Krik am 23. Februar 2010 spurlos.

Seine Familie ebenso wie Amnesty International tappten bezüglich seines Verbleibs wochenlang im Dunkeln. Aber Ben Krik gelang es, das Gedicht „Der Poet und der Diktator” aus dem Kerker an der algerischen Grenze zu schmuggeln, in den er verschleppt worden war. Nun musste er beschuldigt werden. Man warf ihm vor, einen Autounfall verursacht und die gegnerische Lenkerin vergewaltigt zu haben. Ungünstig für die Optik der Regierung war allerdings, dass sich schnell herausstellte, dass die Unfallgegnerin eine Mitarbeiterin der Staatspolizei war . . .

Vor Ben Krik hatte Ben Ali sich gefürchtet. Vor Al Shabbi, dessen Verse zu seinem Regierungsende skandiert worden sind, wohl umso weniger, als dieser nicht nur schon 80 Jahre tot war, sondern auch dadurch vom Regime gebändigt schien, dass ihm die letzten zwei Strophen der tunesischen Nationalhymne zugestanden worden waren.

Als Al Shabbi sich ausgemalt hatte, wie es sein werde, wenn das Volk eines Tages das Leben verlangt, gab es in Tunesien noch Tausendschaften französischer Besatzungssoldaten. Es war rund 40 Jahre her, dass der Bei von Tunesien, um wenigstens formal seinen Hofstaat fortsetzen zu können, alle Regierungskompetenzen an Frankreich abgetreten hatte. Es war die letzte Konjunktur des Kolonialismus, und Al Shabbi sah - wie viele andere afrikanische Intellektuelle - den Zusammenbruch dieses politischen Größenwahns relativ sachlich und gelassen voraus. 15 Jahre später, ab 1945, passierte er.

Anti-Kolonial-Dichtung

Es ist bemerkenswert, dass ein Vertreter der afrikanischen Unabhängigkeitsdichtung von der Bevölkerung zum Herold der gegenwärtigen politischen Bewegung im arabo-afrikanischen Raum gewählt worden ist. Das Modell der Überwindung des Kolonialismus, das schließlich schon einmal funktioniert hat, ist ein naheliegendes Vorbild für die Überwindung der Despotie aus den eigenen Reihen. Und vieles an der spezifischen Konfliktkultur, die in der afrikanischen Unabhängigkeitsdichtung von 1880 bis 1960 zum Ausdruck kam - einschließlich aller enttäuschten Hoffnungen gegenüber Europa - ist in der aktuellen Situation ein nochmals aufgeschlagenes Kapitel. Es gibt so zumindest eine Chance, es anders weiter zu schreiben.

Anzeichen der rissiger werdenden Macht von Langzeitherrschern gibt es auch in anderen afrikanischen Ländern, wie etwa im Sudan, wo das Regime inzwischen die Staatsteilung akzeptiert hat, als auch im mittelafrikanischen Uganda, wo die Bevölkerung zum überwiegenden Teil nicht islamisch, sondern christlich ist. Allerdings ist es auffällig, welche Nebenrolle die Religion in allen diesen Bewegungen spielt. Es geht um Wege aus der Armut, um faire wirtschaftliche Perspektiven, um das Ende von Korruption und Systemen, die sich nur mit massiver Unterdrückung erhalten können, um menschliche Grundrechte, um Demokratie - und immer wieder um Freiheit.

Dieses scheinbare politische Schlagwort birgt auf einem Kontinent, der mit der Unfreiheit so lange so bittere Erfahrungen gemacht hat, ein desto größeres Emotionalisierungspotenzial. Es bedarf zu seiner vollen Entfaltung oft nur eines breitenwirksamen Zitats.

„Wer meine Gedanken kauft, kauft keinen Honigtopf nach jedermanns Geschmack. Er kauft das Pochen der Seelen von Millionen, die hungrig, nackt und krank sich sehnen, fordern, warten. Wer meine Gedanken kauft, kauft keinen falschen Schein von Götzen und Orakeln, er kauft die Gedanken einer rastlosen Jugend, die zwischen Kulturen prüft und fragt und wählt. Wer meine Gedanken kauft, der kauft den Geist der Zeit, ein unauslöschliches Feuer, in allen Herzen, die leiden, glimmt es, glimmt über die Erde, zerstört und läutert und fegt.”Diese Warnung an die Käufer seiner Bücher stammt von dem nigerianischen Autor Ben C. Osadebey. Sie wurde, was angesichts des hochaktuell anmutenden Inhalts bemerkenswert ist, in der hier zitierten Übersetzung von Janheinz Jahn bereits 1954 in der Anthologie „Schwarzer Orpheus” veröffentlicht.

Gefühl von Ohnmacht

Zu den besonderen Merkmalen, die gleicherweise die laufenden politischen Prozesse in Nordafrika wie die antikolonialistische afrikanische Unabhängigkeitsdichtung charakterisieren, zählt der weitgehende Gewaltverzicht und die damit einhergehende Geduld. Sie scheint zu wissen, dass nichts, was falsch ist, Bestand haben kann. Es ist das Gefühl einer Ohnmacht und Ausweglosigkeit, in der dennoch immer wieder zugewartet wird.

In dem Gedicht „Konflikt” von Mabel Imoukhuede, ebenfalls schon Mitte des vorigen Jahrhunderts veröffentlicht, kommt das so zum Ausdruck: „Hier stehen wir niedergeschlagen zwischen zwei Zivilisationen, wir finden das Gleichgewicht lästig, wir wünschen, dass etwas geschieht, und uns auf den einen Weg stößt oder den anderen, wir tasten im Dunkeln nach helfenden Händen und finden keine. Ich habe es satt, o Gott, ich habe es satt, in der Mitte zu hängen. Wohin aber kann ich gehen?” (Übersetzt von Janheinz Jahn; mit den zwei Zivilisationen sind die afrikanische und die westliche gemeint.)

Diese Grundhaltung ist bei Gegenwartsautoren ebenso spürbar: der Verlass auf den Instinkt, ein gewisses Laisser-faire sowie eine große Offenheit, Dinge zuzulassen. Um 1995 schrieb Eduardo White (Mozambique): „Lebewohl. Es ist Zeit. Dort ziehen die Vögel an uns vorbei in die Fremde. (. . .) Sie steigen auf zu Wegen, die wir nicht kennen. Es leitet sie der Instinkt, die Freiheit als Steuer, ihr unbekanntes Alter. (. . .) Sie peilen unsichtbare Grenzen an, herrenlose Gebiete”. (Übers. Elfriede Engelmayer) Und der nigerianische Literatur-Nobelpreisträger Wole Soyinka meinte etwa zu gleicher Zeit, den europäischen Staat müsse man ihm noch zeigen, in dem ein derart großherziger Kompromiss denkbar wäre, wie ihn die schwarze Mehrheit mit der weißen Minderheit in Südafrika vollzogen habe.

Klage des jungen Afrika

Der immer noch mögliche Umschlag des Zuwartens in Zorn wurde bereits vom erwähnten Ben C. Osadebey im Gedicht „Klage des jungen Afrika” anhand der Schilderung eines afrikanischen Jugendlichen angedeutet: „Ich bin halb verhungert, ich bat um Brot und sie gaben mir Stein, ich habe Durst, ich bat um Wasser und sie gaben mir Schlamm. Das Pferd soll eben noch warten, die grünen Gräser würden schon wachsen, sobald die Sahara Flüsse hätte. Ich habe keine Führer, die Anwärter darauf verkauften mich für ein Brot. Sie plappern und zanken, ich bin schon taub von ihrem Geschwätz. Ich sei noch zu jung und zu unverständig, den rechten Weg zu finden. Ich wartete also. Aber umsonst”. (Übers. Janheinz Jahn)

Dass das lange Warten jedenfalls nicht mangelnde Opferbereitschaft bedeutet, hatte in dem Gedicht „Morgenrot” der damals in den USA lebende Arna Bontemps schon um 1925 unterstrichen: „Wir sind nicht gekommen, den Hass zu schüren. Wir sind nicht gekommen, Waffen zu führen. Genug ist getötet worden. Wir wollen kein Leben morden. Aber wir erleiden gerne den Tod für dich, für dich, du Morgenrot”. (Übers. Josef Luitpold)

Einen kraftvollen Lebenswillen haben die Bilder vom Tahrir-Platz in Kairo belegt, bei dem man an zahllose Beispiele aus der afrikanischen Dichtung denken konnte, etwa an das Poem „Leben” von John Samuel Mbiti (Kenia): „Keime nähren sich vom Menschen. Sie schneiden ihr Leben aus diesem schwankenden Baum der Küste. Termiten fliegen aus ihren Hügeln um Atem und Nahrung, doch vom versteckten Zweig schlägt ein Webervogel gierig die fliegenden Dinge und nährt sich davon. Leben, das lebt oder stirbt oder tot ist, Leben, das vor dir da war und nach dir kommt, wird Leben sprühen lassen, wie Wasser aus einem gebrochenen Rohr, wie Luft aus einem Autoreifen”. (Übers. J. Jahn)

Vieles ist noch unklar

Oder auch diese Zeilen von Langston Hug: „Meine Hände, meine dunklen Hände, durchbrecht diese Wand! Findet den Traum, öffnet das Dunkel, zerstreut die Nacht, zersplittert den Schatten in tausend Lichter, in tausend Wirbelträume von Sonne”. (Übers. Anna Siemsen)

Es ist sicher problematisch, sich als Europäer über die afrikanische Dichtung zu äußern, wo sich nicht einmal die afrikanischen Wissenschafter und Schriftsteller darüber einig sind, ob es so etwas wie eine Geschichte der afrikanischen Dichtung im Sinn eines begrenz- und überschaubaren Ganzen überhaupt gibt. Und politisch ist vieles noch unklar. Der Aufbruch in Nordafrika hat in Europa und den USA fast euphorische Reaktionen ausgelöst. Noch ist allerdings nicht gesichert, dass den Umwälzungen in Tunesien und Ägypten weitere folgen werden. Ebenso wenig ist gesichert, dass sich auch nur Tunesien und Ägypten nachhaltig aus der Klammer der Despotie befreit haben.

Und schon gar nicht ist gesichert, dass nicht sowohl Europa als auch die USA an der Demokratisierung dieses Weltteils und seiner Einbindung in die globale Wirtschaft jedes Interesse verlieren, sobald ihre jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Anliegen es nahe legen.

Wie man ja auch die Peinlichkeit nicht vergessen kann, dass die gestürzten Staatschefs jahrzehntelang vom Westen hofiert worden waren, und das auch im Fall von Hosni Mubarak nicht nur aus dem berechtigten Grund, dass er ein Garant für den Frieden mit Israel war.

Michael Cerha, geboren 1953, Publizist, Dramaturg und Kulturvermittler, lebt in Wien, Wernberg und Frauenfeld.