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In Nordkorea leben viele Waisenkinder auf den Straßen. Einigen von ihnen ist es gelungen, ins Nachbarland Südkorea zu fliehen und dort ein besseres Leben aufzubauen.
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Was das Schlimmste an seiner Jugend war? Kim Hyuk muss nicht lange überlegen: Der Hunger sei natürlich schrecklich gewesen, sagt er, doch ohne Essen könne man zumindest drei Tage lang überleben. Aber die Kälte im Winter, wenn das Thermometer unter Minus 20 Grad sank, vor der habe er sich gefürchtet. Denn Erfrieren, das ginge schneller, als man denkt.
Jede Woche seien die Sicherheitskräfte zum Bahnhof angerückt und hätten die Leichen der Obdachlosen aufgesammelt. Zu Dutzenden wurden sie in anonymen Massengräbern verschüttet. "Mein Vater soll auch so gestorben sein", sagt Kim, als beschreibe er ein gewöhnliches Kindheitsschicksal. Nur sein Blick, der für einen Moment das Weite sucht, erzählt eine andere Geschichte.
Kim Hyuk sitzt auf einer Steinbank in Insadong, einst die geschäftigste Marktstraße von Seoul, heute Flaniermeile. Zwischen Galerien, Souvenirläden und Kaffeehäusern erzählt ein unbeschwert wirkender junger Mann von früher: Kim Hyuk lebte, nein, er überlebte jahrelang als Straßenkind in Nordkorea.
Das große Sterben
In den Statistiken tauchen die Kinder nicht auf. Offiziell heißt es, der Führer kümmere sich persönlich um das Wohl seiner Kinder, die in Nordkorea besser leben würden als anderswo auf der Welt. An den Geburtstagen der drei Kims - Staatsgründer Il-Sung, Sohn Jong-Il und der jetzige Herrscher Jong-Un - werden Süßigkeiten an alle Kinder verteilt.
Tatsächlich verloren in den 90er Jahren Tausende ihre Eltern. Die Misswirtschaft des Regimes, das Ausbleiben der sowjetischen Hilfslieferungen und eine Serie an Überschwemmungen kulminierten zur großen Hungersnot, während der, laut einer Schätzung der Vereinten Nationen, zwischen 45. 000 und zwei Millionen Nordkoreaner verhungerten. Zur gleichen Zeit verbaute das Regime umgerechnet 590 Millionen Euro für Denkmäler und das Mausoleum des 1994 verstorbenen Kim Il-Sung.
Zum Überleben blieb unzähligen Kindern nur die Straße, wo sie auf Märkten und in Bahnhöfen bettelten. Kkotjebi nennt man die Straßenkinder auf Koreanisch, übersetzt heißt das "blühende Schwalben" - weil sie ständig in Bewegung bleiben müssen: bis zur nächsten Mahlzeit, zum nächsten Schlafplatz.
Die Kindheit von Kim Hyuk endete, als er sieben war: Seine Mutter starb, der Vater hatte die Familie früh verlassen. Die Folgen des Hungers hatten zuerst die Alten und Kinder getroffen. Wer konnte, floh. Der Heimatort der Brüder verwandelte sich in eine Geisterstadt.
Als Kim Hyuk mit seinem Bruder ins Waisenheim kam, bestand ihre einzige Mahlzeit am Tag aus Körnern und Wurzeln. Von den 75 Kindern verhungerten 24. Die Brüder ergriffen die Flucht auf die Straße. Nachts versteckten sie sich im Bahnhofsgebäude, wo sie sich in die Zwischenräume von Heizkörper und Wand zwängten. Der Spalt bot Wärme und Schutz vor der gefürchteten Polizei.
Tagsüber bettelten sie und begannen zu stehlen - wie die meisten Kkotjebis. Zu dritt oder viert taten sie sich zusammen, erzählt Kim Hyuk: Einer riss auf dem Markt einen Stand um, die anderen nutzten die Aufregung, um die Lebensmittel vom Boden aufzusammeln und damit zu flüchten. Auch unter den Kkotjebis habe sich ein hierarchisches Klassensystem entwickelt: Die Geschicktesten schlossen sich zu Banden zusammen und stahlen so effizient, dass sie sich eine eigene Wohnung leisten konnten.
Umerziehungslager
Außerhalb der Staatsgrenzen ist das Schicksal der nordkoreanischen Straßenkinder selten mehr als eine Kurzmeldung wert; zuletzt im Mai 2013, als die Regierung von Laos eine neunköpfige Gruppe nordkoreanischer Jugendlicher aufgriff und zurück in den Norden abschob. Dort wurden sie im Staatsfernsehen präsentiert, als reumütige Sünder.
Laut der Onlinezeitung "Daily NK", die über chinesische Handys ein ausgeprägtes Informantennetzwerk in Nordkorea unterhält, haben sich seitdem die Sicherheitsbedingungen für Straßenkinder verschärft. Auf der Straße aufgegriffene Jugendliche werden nun umgehend in Umerziehungslager gesteckt, wo ihnen Zwangsarbeit und Folter drohen. In China werden Nordkoreaner weiterhin als illegale Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet und in ihre Heimat abgeschoben - nicht zuletzt, weil man sich vor den Millionen potenzieller Flüchtlinge fürchtet, die in Nordkorea hungern. Um nach Südkorea zu gelangen, müssen Nordkoreaner über Drittländer die Ausreise wagen, entweder durch die Wüste Gobi in die Mongolei oder über den Mekong nach Thailand. Beide Routen sind gefährlich und enden nicht selten im nordkoreanischen Arbeitslager oder im chinesischen Bordell.
Wie viele Kinder in Nordkorea auf der Straße leben, lässt sich nur schwer überprüfen. Die südkoreanischen Behörden sind auf die Berichte Betroffener angewiesen, denen die Flucht gelungen ist: Laut Kim Hyuks Schilderungen lebten während der 90er Jahre in Chongjin, der mit 325.000 Einwohnern siebtgrößten Stadt Nordkoreas, mehrere hundert Minderjährige auf der Straße.
Heute lebt der 31-Jährige in einer Wohnung, studiert an einer renommierten Uni in Seoul und auf seinem Reisepass prangt das Wappen Südkoreas. Er denkt über das Thema seiner Doktorarbeit nach. In Nordkorea hätten die Menschen so viel damit zu tun, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, dass für andere Ambitionen keine Kraft mehr bleibe. Das mache die Menschen auf gewisse Weise faul. "In Südkorea hat man Freiheit, doch man muss viel fleißiger sein, um seine Ziele zu erreichen", sagt Kim.

Manchmal vermisse er das Gefühl seiner Kindheit, die Freiheit als Kkotjebi. In dem Staat der totalen Überwachung lebe wohl niemand so unbeobachtet wie sie. Die anderen Kinder müssen sich schon in der Grundschule durch die täglichen Ideologiesitzungen quälen, als Erwachsener benötigt man selbst für den Besuch der Nachbarstadt Einreisedokumente der Behörden. Doch wer ohne Eltern lebt, nicht zur Schule geht, der fällt auch durch die Raster der staatlichen Kontrolle, sagt Kim.
Wenn Kkotjebis aus dem Land flüchten, tun sie dies weniger aus politischen Gründen, sondern weil sie der Hunger treibt. Meist gehen sie über die chinesische Grenze, an der auch Kim Hyuk mit 16 Jahren stand. Sein erster Fluchtversuch endete mit einem Jahr und acht Monaten Umerziehungslager. Nach seiner Freilassung bereitete er sich sorgfältiger vor. Für den Tag seiner Flucht wählte er den 24. Dezember 2000, den Geburtstag von Kim Il-Sungs Frau, da die Grenzkontrollen an diesem Tag meist lascher seien. Die Flucht glückte. Jedes Jahr erreichen rund 50 minderjährige Nordkoreaner ohne Familienangehörige die südkoreanische Grenze. Damit machen sie knapp zwei Prozent aller Flüchtlinge aus. Insgesamt leben mehr als 25.000 Nordkoreaner im Süden.
Ein zweites Leben
Auch Kang Chun-hyok konnte als Jugendlicher aus seinem Heimatland fliehen. Sein Vater hatte die Familie Jahre zuvor verlassen, und als die Mutter an Typhus erkrankte, musste der Elfjährige auf der Straße betteln, um die Geschwister durchzubringen. Heute zählt Kang zur ersten Generation der Flüchtlinge, die in Südkorea die Oberschule abgeschlossen haben und nun die Universitäten des Landes besuchen: Junge Erwachsene, die ihre Stimme erheben - auch weil das Kim-Regime keinen Druck mehr auf sie ausüben kann. Denn im Gegensatz zu den anderen Flüchtlingen müssen die Kkotjebis nicht um ihre zurückgelassenen Familien bangen, die für den Landesverrat ihrer Angehörigen in Umerziehungslagern büßen müssen.
"Hier erfährt man nur die politischen Nachrichten über Nordkorea, aber das wird der Realität nicht gerecht. Ich will den wirklichen Alltag zeigen", sagt Kang. Reden ist eigentlich nicht seine Sache, der 27-Jährige wirkt verschlossen und unsicher, das Trauma der Vergangenheit lastet auf ihm. Aber Kang Chun-hyok hat einen anderen Weg gefunden, seine Geschichte zu erzählen.
An diesem Sonntag steht er in einer Fußgängerzone in Seouls Zentrum, ehrfürchtig betrachtet er die weiße Leinwand vor ihm. Noch einmal holt er tief Luft, dann geht es los: "Live-Drawing" nennt Kang seine Performance, mit der er seinen Landsleuten in Südkorea die Leidensgeschichten in Erinnerung ruft, die sich tagtäglich nur eine Autostunde entfernt abspielen.
Bilder als Dokumente
In Windeseile skizziert er mit seiner Zeichenkohle, viele Passanten filmen die Performance mit ihrem Smartphone. Langsam zeichnen sich auf der Leinwand die Konturen eines spindeldürren Kindes ab, ängstlich schaut es ins Publikum, es trägt schwere Stahlfesseln um Hals und Hände. "Es tut mir leid, dass ich nichts für dich tun kann", unterschreibt Kang das fertige Bild. Als er sich umdreht, sind die meisten Zuschauer schon weitergezogen.
Früher habe er es mit abstrakter Malerei versucht, sagt Kang, aber schnell gemerkt, dass der realistische Stil besser zu seinem Charakter passe. Seine Bilder versteht er vor allem als Zeitdokumente für die Nachwelt. Eines zeigt einen Jungen im Vorschulalter, der auf ein riesiges Wandplakat starrt - es ist die Verlautbarung der nächsten öffentlichen Hinrichtung. "Ungefähr in demselben Alter habe auch ich meine erste Erschießung gesehen", sagt Kang. Eigentlich wollte er nur leere Patronenhülsen aufsammeln, die, wie ihm ein Junge erzählt hatte, schöne Geräusche machen, wenn man in sie hineinpustet. Dann sah er die Kugeln einschlagen, das Blut spritzen. Sein Leben lang werde er das nicht vergessen.
Schon damals habe er leidenschaftlich und düster gemalt. Seine Bilder aus der Grundschule zeigten Panzer und amerikanische Soldaten, mit großen, spitzen Nasen zu Fratzen verzerrt.
In Seoul, wo Kang seit mehr als zehn Jahren lebt, wurde er an der renommiertesten Kunsthochschule des Landes angenommen. Dass es Künstler schwer haben, in dieser neoliberalen Gesellschaft, in der vor allem Ärzte, Anwälte und Samsung-Angestellte respektiert werden, schreckt Kang nicht. "In dieser Gesellschaft werde ich nicht verhungern."
Fabian Kretschmer, 1986 in Berlin geboren, arbeitet als Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien in Südkorea.