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Der Literaturwissenschafter Volker Klotz, der am 20. Dezember 80 Jahre alt wird, warnt vor der Überschätzung von Künstlerbiographien und empfiehlt, die Angst vor Kunstwerken abzulegen.
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"Wiener Zeitung": Herr Klotz, Sie haben einmal gesagt, wir hätten heute zu viel "Angst vor dem Artefakt". Wie ist das zu verstehen? Volker Klotz: Wer ins Theater geht, sieht ein ganz bestimmtes Stück, wer ins Museum geht, sieht ein ganz bestimmtes Gemälde, ehe er sich dem nächsten zuwendet. Und mit dem, was man da sieht, sollte man sich zunächst einmal beschäftigen. Man sollte also etwa fragen, wie ist dieses oder jenes Theaterstück beschaffen, inwieweit ähnelt es seinesgleichen oder unterscheidet sich davon? Solche Fragen werden leider selten gestellt, weil viel zu früh kunstferne Informationen zu Hilfe gerufen werden. Vor allem rückt die Biographie des Künstlers ins Zentrum des Interesses. Als ob Goethe sein Gedicht "Willkommen und Abschied" nur geschrieben hätte, damit die Literaturwissenschafter später herausfinden können, an welchen Sesenheimer Baum der Dichter seinen Gaul angebunden hat, während er seine geliebte Friederike besuchte. Diese biographische Wissensgier kann bis ins Absurde gehen, und sie steht dem Verständnis der Kunstwerke im Wege.
Aber vielen Lesern bedeutet "der Mensch" eben mehr als nur die Werke, die dieser Mensch geschrieben hat. Es werden heute sicherlich mehr Dichter-Biographien gelesen als literarische Texte. Woran liegt das?
Das kann zwei Gründe haben. Entweder fühlen sich Liebhaber erhabener Lebensläufe selbst eher klein und unbedeutend und wollen aus der Beschäftigung mit einem außerordentlichen Künstlerleben ihrerseits an Bedeutung gewinnen. Indem ich mich Stefan George nähere, fällt auch ein Glanz auf mich; oder wenn ich mich in den politisch verfolgten, früh verstorbenen Georg Büchner einfühle, atme ich selbst heroische Lebensluft. Doch das Interesse an der Biographie kann auch genau in die Gegenrichtung führen: Die Biographen versichern uns sozusagen, dass die größten Künstler ihre Zähne auch nicht anders putzen als unsereiner. Das mag eine gewisse Entlastung herbeiführen; man braucht vor den großen Dichtern keine Scheu mehr zu haben. Wenn es regnet, werden sie genauso nass wie wir.
Ist diese Fixierung auf die Künstlerbiographie überall zu beobachten?
Naja, in Wien kreist das Kulturleben besonders stark um die Frage: Wer ist der Mensch, der das oder jenes Kunstwerk gemacht hat? Und noch viel mehr um die Frage: Wer ist dieser Mensch, der jenes Werk von Chopin so virtuos dem Klavier entlockt; oder der auf der Bühne die Rolle des Macbeth so faszinierend dargestellt hat?
Aber das Problem geht doch über Wien hinaus: Gerade in den letzten zwanzig Jahren sind besonders viele Künstlerbiographien veröffentlicht worden, und ich verstehe das als ein Zeichen der erwähnten Angst vor dem Werk. Künstlerische Werke sind oft seltsam und befremdlich, und sie erschließen sich nicht auf Anhieb in all ihren Facetten. Deshalb sollte im Zentrum der literaturwissenschaftlichen Tätigkeit nicht das Anekdotenerzählen stehen, sondern eben das Erschließen anspruchsvoller ästhetischer Gebilde. Um ein Beispiel zu geben: Es gibt ein wunderschönes Gedicht von Eduard Mörike, "Am Rheinfall". Wer das verstehen will, sollte sich nicht mit der Information begnügen, an einem bestimmten Tag habe der Dichter den Rheinfall bei Schaffhausen besucht und unter diesem packenden Eindruck seien ihm die Verse aufs Papier geflossen. Es wird zwar schon so sein, dass Mörike den Rheinfall gesehen haben musste, um dieses Gedicht machen zu können. Aber zum Verständnis reicht dieser biographische Hinweis nicht aus. Denn es bleibt ja doch zu klären, wodurch sich dieses Gedicht etwa von einer Tagebucheintragung unterscheidet: Was hat und kann ein Gedicht, das ein Tagebuch nicht hat und kann? Mit solchen Fragen beginnt das literaturwissenschaftliche Interesse.

Das heißt, die Künstlerpersönlichkeit sollte weniger beachtet werden.
Ja. Das ist auch deshalb nötig, weil im Laufe der Menschheitsgeschichte viele Kunstwerke entstanden sind, deren Urheber unbekannt sind. Das berühmteste Beispiel ist jener Dichter, den die Menschheit Homer nennt, obwohl sie nicht einmal weiß, ob es ihn überhaupt als Einzelperson gegeben hat. Die Texte, die unter diesem Namen bekannt sind, muss ich also anders beurteilen als Werke eines modernen Autors wie beispielsweise Thomas Bernhard, der jede Minute seines Lebens dokumentiert hat.
So gesehen, sind literarische Werke verlässlicher als biographische Angaben.
Richtig. Es gibt diese Werke aber nur, weil die viel gescholtenen literaturwissenschaftlichen "Positivisten" dafür gesorgt haben, dass sie möglichst unverfälscht an uns gelangen. Ohne die sorgfältige Arbeit jener Philologen aus dem 19. Jahrhundert und ihrer Nachfolger hätten wir heute nicht die Möglichkeit, uns mit der Literatur vergangener Epochen zu beschäftigen.
Sie haben gerade ein Buch über Lyrik abgeschlossen, das demnächst erscheinen wird. Die Lyrik ist ein Artefakt, das besonders angstbesetzt ist: Gedichte, so hört man oft, brauchten einen besonderen Zugang, müssten tiefsinnig "interpretiert" werden, seien also nur etwas für Eingeweihte . . . Das kommt wohl daher, dass Gedichte eine gewisse Intimität haben. Theaterstücke sind zur öffentlichen Aufführung da, ein Roman handelt von der Welt und ist - mit einem überaus konzentrierten Gedicht verglichen - relativ grobschlächtig geschrieben. Daher muss man das Gedicht sozusagen mit dem Mikroskop lesen, um festzustellen, welche besondere Leistung das Zusammenspiel dieses rhythmischen Umschwungs und jener Klangballung, aber auch jener verzwickten Metapher erbringt. Dadurch wurden viele Interpreten und Deuter dazu verführt, die Lyrik tiefsinniger zu sehen, als sie ist. Sie hören Flöhe husten auf Hunden, die gar nicht da sind. Es genügt, dass man mit Fantasie und mit gespitzten Ohren und Augen an Kunstwerke herangeht. Und dabei braucht man keine Angst zu haben. Getrost darf man sich den Kunstwerken nähern. Sie schlagen nicht zurück. Das finde ich auch immer das Beruhigende an meinem Beruf. Machst du als Arzt einen Fehler, kannst du wen umbringen. Wenn du ein Gedicht fehlerhaft analysierst, dann tut das dem Gedicht nicht weh.
Dem Gedicht nicht, aber vielleicht den Lesern. Viele Menschen sagen, die Literatur sei ihnen in der Schule von schlechten Deutschlehrern verdorben worden.

Ja, Lehrer können viel kaputt machen. Ich will zwar nicht gerade behaupten, dass sie darauf abzielen, aber dass sie dazu imstande sind, steht fest. Doch es gibt ebenso Lehrer, die ihre Schüler auf die Literatur produktiv neugierig machen.
Und wie sieht es an der Universität aus?
Also, ich finde, dass die Literaturwissenschaft dazu da sein sollte, den Laien die Literatur zugänglicher zu machen. Aber an der Universität ist es leider oft so, dass literarische Texte nur dazu benutzt werden, eine momentan aktuelle Theorie zu beweisen, die dann drei Jahre später von denselben Leuten schon wieder für veraltet erklärt wird. Diese Besessenheit von neuesten theoretischen Moden ist im deutschsprachigen Raum besonders deutlich zu bemerken; ich habe oft als Gastprofessor in anderen europäischen Ländern gearbeitet, und nirgendwo wurde so aufgeregt wie hier überlegt: Bin ich up to date, bin ich auf der Höhe des jeweiligen akademischen Jargons?
Ist das nicht auch eine Folge des scharfen akademischen Konkurrenzkampfs?
Sicher, die jungen Wissenschafter müssen Angst um ihre Zukunft haben. Es gibt ja an der heutigen Universität kaum noch Literaturbeamte auf Lebenszeit, so wie ich das gewesen bin. Es gibt in der Regel nur noch befristete Verträge, und das führt zu atemloser Hektik.
Ich frage eilige Leute gerne: Was hast du angefangen mit dem bisschen Zeit, das du durch deine Hast errafft hast? War das wirklich eine fruchtbare Phase deines Lebens?
Aber gibt es nicht auch ein legitimes psychologisches Bedürfnis nach rascher Bewegung? Es kann doch nicht immer nur gemächlich zugehen.
In einem Buch - es heißt lapidar "Erzählen: Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner" - habe ich mich mit unterschiedlichen Zeitverläufen und Tempi beschäftigt. Immer wieder kommen in der Weltliteratur Werke vor, in denen etwas erzählt wird, um damit gegen den gewaltsamen Tod anzugehen. Sheherazade in "1001 Nacht" ist ein berühmtes Beispiel, ein anderes Boccaccios "Decamerone": In Florenz herrscht die Pest, und ein kleiner Kreis von Menschen schottet sich auf einem Landgut ab, um sich nicht anzustecken und zu sterben. Der Tod droht als absolute Statik - du liegst im Sarg und kannst dich nicht mehr bewegen. Dagegen wird im "Decamerone" anerzählt, nicht anders als in "1001 Nacht". Ich nehme an, dass auch der moderne Tempo- und Bewegungskult eine Abwehr des Todes ist: je schneller ich lebe, desto mehr erlebe ich. Das ist ein nachvollziehbarer Gedanke, aber meistens geht die Rechnung eben nicht auf, denn man erlebt in der Schnelligkeit tatsächlich weniger.
Wenn es aber zu langsam dahin geht, erlebt man möglicherweise auch nichts. Das ist eine Erfahrung, die man beim Lesen auch machen kann. "Krieg und Frieden" zum Beispiel mag ein großartiges Buch sein, aber ich kann es nicht lesen, weil mir die Lektüre einfach zu lang dauert.
Zu lang, gemessen woran?
An meiner Lebenszeit.
Na gut, aber vielleicht sind wir ja nur durch die schnellen Schnitte und Schwenks des Fernsehens und des Kinos für langsamere Vorgänge verdorben worden. Als ich noch an der Universität unterrichtet habe, wurde ich oft von den Studenten mit der Frage konfrontiert, warum denn manche Texte so furchtbar lang sind. Ich habe dann versucht klarzumachen, dass jede Länge und jedes Tempo eine bestimmte Funktion im Gesamttext haben. Das ist in der Literatur nicht anders als in der Musik, manchmal muss man beschleunigen, dann wieder reduzieren. Aber das zu begreifen, fällt vielen schwer, weil sie nicht gelernt haben, darauf zu achten.
Aber muss denn das Lesen von Literatur wirklich so mühsam erlernt werden? Oder gibt es, zeitgemäß gefragt, vielleicht ein Dichtungs-Gen, das geborene Leser auf die Welt kommen lässt?
Das halte ich für unwahrscheinlich. Wer lesen will, muss ja zunächst einmal lernen, was ein Buchstabe ist und dass mehrere Buchstaben hintereinander einen Sinn ergeben. Damit fängt es an. Das Lesen will ebenso gelernt sein, wie der Umgang mit dem Theater, der Musik oder der bildenden Kunst. Aber ich glaube, dieses Lernen könnte man von der Grundschule an sehr vergnüglich gestalten. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass man lernt, Fragen zu stellen.
Könnte das auch eine politische Bedeutung haben? Wer gelernt hat, Kunstwerke sinnvoll, hartnäckig und kritisch zu befragen, ist vielleicht nicht mehr so vertrauensselig gegenüber den politischen Verlautbarungen und ihren Botschaften.
Das denke ich mir eben auch. Ich habe an der Universität immer dazu angeregt, möglichst oft die Frage "wozu?" zu stellen: Wozu gibt es überhaupt Literatur, wozu gibt es in der Universität Literaturwissenschaft? Wozu hat ein Lyriker einen schönen Reim, den er gefunden hat, getrübt? Vielleicht, weil er ihm zu glatt vorkam? In bestimmten Epochen der Lyrikgeschichte kommt es auf die Glätte an, in anderen versucht man, die Verse aufzurauen - aber wozu?
Bei solchen Fragen kommt man aber immer wieder darauf, dass die Form eines Textes genauso wichtig ist wie sein Inhalt.
Viele Menschen stellen sich das Verhältnis von Form und Inhalt ungefähr so vor wie das Verhältnis von Silberpapier und Schokolade. Die Form ist das Silberpapier, das ich entfernen muss, um zum eigentlichen, also zur Schokolade, zu kommen. Das Problem dabei ist nur, dass es dieses Etwas, das in der künstlerischen Form so verpackt wäre wie die Schokolade im Silberpapier, gar nicht gibt. Wenn ich die künstlerische Form eines Textes wegräume, bleiben oft nur Banalitäten übrig, die dann als "Botschaft" verstanden werden.
Das beste Beispiel für solches Denken ist wieder die Liebe zur Biographie. Man nimmt den Text als biographisches Dokument - und liest darin die Wahrheit über den Autor. Sobald man die gefunden hat, kann man den Text vergessen. Ein verbreitetes Verhalten.
Ja sicher. Ich freue mich einerseits immer, wenn ich in Wien bin und Ö1 höre. Das ist ein Sender, der keinen Sport und keinen Pop bringt, sondern ausschließlich Kunst. Aber auch dort wird nicht etwa anschaulich vorgeführt, wie sich zum Beispiel das Genre des Klavierkonzerts von Bach über Mozart bis zu Bartók weiterentwickelt hat. Stattdessen wird ein Pianist interviewt, der erzählt, wo er überall aufgetreten ist. Und da zeigt sich eben leider wieder, dass selbst in diesem Kultursender viele dafür zuständige Menschen nichts mit der Beschaffenheit von Kunstwerken anfangen können. Sie benutzen das Artefakt sozusagen als Zapfsäule, der sie historische Informationen über Künstler und Zeitumstände entnehmen. So steht das Kunstwerk nicht mehr für sich selbst, sondern nur als Anlass für andersartige Sachverhalte. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Beschäftigung mit der Kunst, und die professionellen Kunstbetrachter sind da nicht viel anders als die Laien.
Und welches Verhalten würden Sie dem literaturinteressierten Publikum raten?
Solange ich mit Studenten zu tun hatte, war es mein genereller Impuls, sie zur Neugier anzuhalten. Ich wünsche mir vor allem, dass Leute den Dingen, die ihnen auffallen, nachgehen, dass sie genau hinschauen und etwas Eigenes herausfinden. Dass sie Lust haben, für sich selber herauszufinden, was denn an dem einzelnen Kunstwerk dran ist, wie es sich von allen anderen unterscheidet. Und dass sie sich auf Grund von genauem Hinschauen und Hinhören ein eigenständiges Urteil zutrauen - ehe sie den scheinbar unerschütterlichen Urteilen der professionellen Kritiker und Wissenschafter blindlings vertrauen.
Zur Person
Volker Klotz, geboren am 20. Dezember 1930 in Darmstadt, war von 1971 an bis zu seiner Emeritierung Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit war er an verschiedenen Bühnen (u.a. in Wien) als dramaturgischer Berater tätig und schrieb Theater- und Literaturkritiken für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften.
Klotz, der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität Frankfurt studiert hat, trat im Lauf seines Arbeitslebens mehrmals als Pionier auf: Als Student verfasste er die erste bundesdeutsche Monographie über Bertolt Brecht, und in seiner Habilitationsschrift "Die Erzählte Stadt" erschloss er 1969 das bis dahin wenig beachtete Genre des Großstadtromans. Später beschäftigte sich Klotz immer wieder mit fächerübergreifenden Themen, unter anderem mit der Operette oder der Epik vieler Epochen und Kulturen. Die Publikation seines neuesten Buches über die Lyrik ist in Vorbereitung.
Seit seiner Emeritierung lebt Klotz teils in Stuttgart, teils in Wien.
Veröffentlichungen (Auswahl):
"Bürgerliches Lachtheater", 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, Winter, Heidelberg 2007.
"Erzählen", Beck, München 2006.
"Operette", erweiterte und aktualisierte Auflage, Bärenreiter, Kassel 2004.
"Das europäische Kunstmärchen", 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Fink, München 2002.
"Gegenstand als Gegenspieler", Sonderzahl, Wien 2000.
"Bertolt Brecht", 6., unveränderte Auflage, Königshausen und Neumann, Würzburg, 1996.
"Geschlossene und offene Form im Drama", 11. Auflage, Hanser, München 1985.