Großbritannien und Deutschland argumentieren gegen den IS mit dem Recht auf Selbstverteidigung.
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London/Berlin. Afghanistan, Libyen, Irak: Die britischen Militäreinsätze in den vergangenen Jahren waren nicht unbedingt von langfristigem Erfolg gekrönt. Zwar wurden die ungeliebten Regime der Taliban, von Muammar al-Gaddafi und Saddam Hussein gestürzt. Doch danach folgte Chaos statt eines gelungen Aufbaus staatlicher Strukturen. In jenen Ländern gedeiht heute der ideologische Nährboden, aus dem die islamistische Terrormiliz Islamischer Staat (IS) schöpft. Großbritannien will nun auch in Syrien militärisch eingreifen, um den IS zu bezwingen. Als "sehr reale Bedrohung" bezeichnete Premier David Cameron die Miliz am Mittwoch im britischen Unterhaus. Auf zehn Stunden war die Debatte der Parlamentarier angesetzt. Auch wenn das Ergebnis bei Redaktionsschluss nicht feststand, war von Beginn an klar, dass dank dutzender Labour-Abgeordneter Cameron grünes Licht für Luftangriffe erhielt.
Im Deutschen Bundestag wird wiederum am Freitag über einen Einsatz abgestimmt. Am Mittwoch legte die Regierung ihre Pläne den Abgeordneten vor. Doch selbst die schwarz-rote Koalition erwartet nicht, dass der IS damit komplett zerstört oder der Krieg in Syrien beendet wird.
Ersatz für fehlendes Mandatim UN-Sicherheitsrat
Zental für die Argumentationsline Camerons ist folgender Satz, der auch am Mittwoch fiel: Großbritannien könne seine nationale Sicherheit nicht an andere Länder auslagern. Damit spielt Cameron auf Artikel 51 der UN-Charta an, das Recht auf kollektive Selbstverteidigung bei bewaffneten Angriffen. Es ist laut Charta der Vereinten Nationen eine von zwei Möglichkeiten, unter denen Gewalt ausgeübt werden darf.
Die zweite Variante ist im Falle des IS nur eine theoretische: das Mandat durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (Kapitel VII der UN-Charta). Dafür braucht es jedoch Einstimmigkeit im wichtigsten Gremium der UN. Doch unter den ständigen Mitgliedern besteht kein Konsens zwischen den USA, Großbritannien und Frankreich auf der einen Seite sowie Russland auf der anderen; das fünfte Mitglied China hält sich dabei zurück, würde sich bei Einverständnis Russlands jedoch nicht querstellen.
Zwar verurteilte der UN-Sicherheitsrat am 20. November einstimmig die Terroranschläge von Paris, Beirut und auf ein russisches Flugzeug, das auf der Sinai-Halbinsel abstürzte. Sie alle gingen wohl auf das Konto des IS. "Laut jener Resolution 2249 wird die Terrormiliz als beispiellose Bedrohung für den Weltfrieden betrachtet. Zwar hat Resolution 2249 die politische Legitimationsbasis verstärkt, ist formal aber keine Ermächtigungsresolution", sagt Christian Pippan vom Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Graz zur "Wiener Zeitung". Denn es fehlt zweierlei: Der Verweis auf Artikel VII, und die Worte "autorisieren" beziehungsweise "beschließen" in Zusammenhang mit der Legitimierung der Gewaltanwendung.
Doch auch das Selbstverteidigungsprinzip, auf das sich Großbritannien und Deutschland für ihre Teilnahme an der Anti-IS-Allianz berufen, ist nicht frei von argumentativen Tücken. Denn das Völkerrecht baut primär auf Überlegungen zu zwischenstaatlichen Konflikten auf. Terrormilizen wie IS, die zwar grenzüberschreitend operieren, aber nicht über ein anerkanntes Territorium verfügen, fallen aus dem gewohnten rechtlichen Schema eines Staates, der Trias aus Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Spätestens seit den Angriffen vom 11. September 2001 ist jedoch klar - und per Resolution des UN-Sicherheitsrats festgehalten -, dass ein Staat sich gegen Terrorgruppen ebenso wie gegen Staaten zur Wehr setzen kann.
Nur Russland ist vonAssad "eingeladen"
Als die USA im August vergangenen Jahres ihre Luftangriffe auf IS-Stellungen im Irak begannen, beriefen sie sich auch auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta. Allerdings hatte die irakische Regierung die Vereinigten Staaten offiziell um militärisches Eingreifen ersucht. Eine solche "Einladung zur Intervention", wie sie in Fachkreisen genannt wird, gab es aber nicht von Syriens Machthaber Bashar al-Assad, als die USA knapp zwei Monate später auch Stellungen des Islamischen Staats in Syrien angriffen mit dem Verweis, der IS bedrohe von seinen syrischen Stellungen aus den Irak. Jedoch: "Wenn es das Ziel ist, IS anzugreifen, dann haben wir nichts dagegen", kommentierte der syrische Außenminister Walid Muallem damals die Bombardements. Syrien ließ also die USA gewähren. Russland - von Assad als einziger Staat "eingeladen" - habe damals entschieden gegen die amerikanische Interpretation des Völkerrechts protestiert, erinnert Christian Pippan.
Nach den Terroranschlägen von Paris, die 130 Tote forderten, hat Frankreich dem IS den Krieg erklärt. Präsident François Hollande beruft sich auf den Selbstverteidigungsfall, da die Attentate auf französischem Boden stattfanden. "Großbritannien und Deutschland leisten aus dieser Sicht kollektive Selbstverteidigung auf Ersuchen Frankreichs im Sinne der Bündnisklausel im EU-Vertrag. Problematisch ist dabei aber, dass Einsätze auf syrischem Territorium stattfinden sollen. Schließlich wird die territoriale Integrität verletzt", sagt Völkerrechtler Pippan.
Nach traditioneller völkerrechtlicher Sichtweise sei individuelle oder kollektive Selbstverteidigung nur dann zulässig, wenn Syrien das Handeln des IS zugerechnet werden könne. "Ein Teil der Lehre und die Staatenpraxis tendieren mittlerweile zur Meinung, dass, wenn ein Staat Extremisten auf dem eigenen Gebiet nicht bekämpfen kann oder will, er eine Verletzung seiner territorialen Integrität hinnehmen muss", erklärt Christian Pippan.
Die Praxis bewege sich in zweitere Richtung. Letztlich sei es aber eine Rechtsnorm in Entwicklung, ein neues Gewohnheitsrecht noch nicht entstanden.