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Das Symptom der europaweiten Korruption und seine tiefer liegenden Ursachen - eine kleine Epidemiologie.
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Die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr. Nicht für Politiker.
Denn so viel Korruption war nie. Dabei braucht man gar nicht auf den Balkan zu blicken oder nach Österreich, das sich von diesem weit weniger unterscheidet, als man zu hoffen wagte. Selbst in dem für seine Korrektheit geschätzten Deutschland wurde im Zuge der Affäre um Ex-Bundespräsident Christian Wulff die Existenz des Hannoverschen Klüngels bekannt, der von Wiener Verhältnissen offenbar nicht allzu weit entfernt ist. In der Slowakei stürzte die Regierung über eine Schmiergeldaffäre. Im Vereinigten Königreich schaffen hohe Geldbeträge die Möglichkeit, mit dem Premier zu speisen.
Es scheint, als hätte eine Epidemie die europäische Politik erfasst. Dass es manche Freisprüche im Zweifel gab oder sich mancher Akt des Nehmens und Gebens nie in einer Verurteilung niederschlagen wird, befreit die Politiker nicht von einem Generalverdacht.
Generalverdacht? Ganz recht. Denn während Juristen zu Recht darauf bestehen müssen, dass eine Tat zweifelsfrei nachgewiesen ist, haben die Bürger ihr Urteil längst gesprochen. Wenn sie ihren Vertrauensverlust nicht auf der Straße demonstrieren, tun sie dies an den Wahlurnen - indem sie ihnen fernbleiben.
An Entscheidungen sind sie ohnehin nicht beteiligt, und die Politik kann das einst gegebene Versprechen, stellvertretend für ihre Wähler deren Probleme zu lösen, längst nicht mehr erfüllen. Das postmoderne Ende der großen Erzählungen, das der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard postulierte, scheint mit den Ideologien auch gleich jegliche Moral oder Ethik entsorgt zu haben. Dass man auf die Allgemeinheit nicht Rücksicht nimmt, kann zwar in einem System nicht überraschen, das die Bereicherung des Individuums zum Maß aller Dinge erhebt, aber die Scham- und Maßlosigkeit zeigt deutlich, wie weit sich die Politiker von ihrem Volk entfernt haben. Das gilt übrigens auch für Wirtschaftsbosse.
Ein besonders anschauliches Beispiel für Abgehobenheit lieferte Anfang des Jahres Portugals Präsident Anibal Cavaco Silva. Im Versuch zu erklären, dass jeder Opfer bringen müsse, verkündete er, dass eine seiner Pensionen nach Kürzung "nur 1300 Euro" betrage. Dabei vergaß er zu erwähnen, dass er insgesamt mehr als 10.000 Euro an Pensionsbezügen hat, weshalb er auch auf das Präsidentengehalt verzichten muss. Die Durchschnittspension in dem Land liegt übrigens bei 400 Euro. Die Portugiesen reagierten mit Protesten - und Humor: Sie sammelten Almosen wie Groschen und Kaugummi für ihren "armen Präsidenten."
Wohlgemerkt: Auch Journalisten neigen dazu, ihre Privilegien zu unterschätzen. Aber sie sind - vermutlich zum Glück - nicht verantwortlich für das Wohl und Wehe der Bevölkerung. Politiker und Manager hingegen schon. Sie schweben indes "somewhere over the rainbow", wie es in dem Song heißt, den sich Wulff zu seinem Abschied gewünscht hat. Auch ein Lied von Peter Schilling hätte gut zum Anlass gepasst: "Völlig losgelöst von der Erde . . ." Heute denkt dabei keiner mehr an Raumschiffe.