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Vom 2. Bezirk nach Auschwitz

Von Alexander Maurer

Politik

Für 45.000 österreichische Juden waren die Sammellager in der Leopoldstadt die letzte Station vor dem Konzentrationslager. Eine Ausstellung in der Krypta des Heldendenkmals erinnert an dieses unbekannte Kapitel Wiens.


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Wien. "Und er hat uns noch gesagt: ,Wenn ihr diese Postkarte bekommt, geht dort nicht hin! Die bringen euch um! Ich hab es erlebt!‘. Niemand von uns konnte das glauben. Ich habe damals den Fehler gemacht und bin hingegangen." Das hätte Bernhard Morgenstern beinahe das Leben gekostet. Sein Freund, der aus einem Konzentrationslager geflüchtet war, wusste, was die postalisch verschickte Aufforderung an die mehr als 167.000 in Wien lebenden Juden, in die "Sammellager" in der Leopoldstadt zu kommen, bedeutete.

1941 richtete der SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, Leiter der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung", vier Sammellager in der Wiener Leopoldstadt ein, alle in ehemaligen jüdischen Schulen. Diese Lager in der Castellezgasse 35, der Kleinen Sperlgasse 2a und der Malzgasse 16 und 7 bedeuteten ab 1941 für 45.000 der 66.000 ermordeten österreichischen Juden die letzte Station vor der Deportation ins Konzentrationslager.

"Ich hörte noch Jahre lang das Geräusch von Stiefeln im Flur"

Da sich im Laufe der Zeit immer weniger Juden freiwillig in den Lagern meldeten, wurde ab November 1941 damit begonnen, Juden in ihren Wohnungen und auf der Straße "auszuheben". Dies geschah unter der erzwungenen Mithilfe der Kultusgemeinde, deren Einrichtungen als Lager herhalten mussten. "Noch Jahre später, als ich wieder zuhause war, bin ich in der Nacht aufgeschreckt, weil ich gedacht habe, das Geräusch von Stiefeln im Flur zu hören", erzählt die Überlebende Rosa Kostenwein. "Ich habe mit anderen darüber gesprochen und auch sie hatten lange Zeit solche Träume."

In den Sammellagern selbst wurden Frauen, Männer und Kinder in die Turnsäle der ehemaligen Schulen gebracht, schliefen dort "gestapelt wie die Sardinen", wie sich der Journalist Rudolf Gelbard, der 1942 mit seiner Familie nach Theresienstadt deportiert wurde, erinnert.

Die Insassen der Lager mussten sich dann der "Kommissionierung" durch den verantwortlichen NS-Beamten Anton Brunner und seiner SS-Leute stellen. Diese entschied über Zurückstellung, Entlassung oder Deportation der Juden. Ihnen wurden die Dokumente abgenommen, oft vor ihren Augen zerrissen, sie mussten den Vermögensverzicht unterschreiben, bevor sie abtransportiert wurden. Wer keinen Schutz durch nichtjüdische Verwandte hatte, eine ausländische Staatsbürgerschaft besaß oder Mitarbeiter der Israelitischen Kultusgemeinde war, konnte der Deportation kaum entrinnen. Viele stiftete das zu Verzweiflungstaten an. Die medizinischen Journalbücher der Lager belegen, dass Insassen immer wieder versuchten, sich umzubringen, beispielsweise, indem sie sich aus den Fenstern stürzten. Wer das überlebte, wurde auch noch auf der Bahre in den Deportationszug gebracht.

Am Bahnhof Aspang wurden die Juden dann Richtung Polen deportiert, meist ins Ghetto nach Litzmannstadt oder in die Vernichtungslager Maly Trostinez, Auschwitz, Sobibor und Treblinka. Laut Berichten hielten die Bewohner der Häuser mit Blick auf den Bahnhof ihre Kinder dazu an, während der Transporte nicht an die Fenster zu gehen. Es war also bekannt, was dort vor sich ging.

"Eine der größten Demütigungen"

Ab November 1941 waren Juden ab sechs Jahren verpflichtet, den gelben Judenstern auf Herzhöhe zu tragen. "Das war eine der größten Demütigungen" erinnert sich die Ärztin Helga Feldner-Busztin, die so öffentlich ausgegrenzt und Beschimpfungen ausgesetzt wurde. "Als ich einmal am Kai entlangging, kam eine Frau auf mich zu, hat mir einfach eine runtergehauen und ,Du Jusendsau!‘ gesagt. Aber als ich dort ein andermal war, hat mir eine Frau einen kleinen Sack Orangen, die damals eine Seltenheit waren, gegeben. Die Reaktionen waren also auch unterschiedlich", sagt sie.

"Ich hab den Stern selten getragen", erzählt der österreichische Maler und Sänger Arik Brauer, der damals selbst beinahe deportiert wurde. "Ich hatte ihn nur mit Druckknöpfen befestigt. Ich sah damals nicht sehr jüdisch aus und sprach einen dicken Ottakringer Dialekt." Brauer arbeitete als Jugendlicher in einer Tischlerei der Kultusgemeinde und wurde so öfters für Arbeiten in den Sammellagern eingeteilt. In der Malzgasse traf er seine Schulliebe Lizzi wieder. Brauer bot ihr an, sie im Schrebergarten seiner nichtjüdischen Verwandten zu verstecken. "Sie sagte mir, sie müsse das noch mit ihren Eltern besprechen und sie gibt mir morgen Bescheid. Am nächsten Tag war sie weg."

Brauer erzählt, dass die jüdischen Einrichtungen in Wien bis 1945 fast zur Gänze erhalten waren. "Es wurden auch immer kleinere Transporte organisiert. Die SS-Leute wussten, dass sie an die Ostfront müssen, wenn es in Wien keine Juden mehr zum Deportieren gibt." Auch Brauer sollte "ausgehoben" werden, als die Tischlerei kurz vor Kriegsende aufgelöst wurde. Er versteckte sich stattdessen im Schrebergarten eines Verwandten, bis die Rote Armee vom Kahlenberg aus nach Wien kam. "Man kann sich den Unterschied zwischen Unterdrückung und Freiheit kaum vorstellen. Ich hatte zwar keine Schuhe, aber ich durfte wieder am Trottoir gehen, nicht im Rinnstein", erinnert er sich.

Im kollektiven Gedächtnis fast unbekannt

Die 1929 geborene Feldner-Busztin wurde von ihrem Großvater, einem ehemaligen K.u.K.-Offizier, zweimal vor der Deportation bewahrt. Im März 1943 wurde die damals 14-jährige aber mit ihrer Mutter und Schwester nach Theresienstadt gebracht. Sie entging der Weiterfahrt nach Auschwitz, indem sie auf den Feldern des Lagers arbeitete, bis das Konzentrationslager 1945 von der Roten Armee befreit wurde.

Die vier Sammellager in der Leopoldstadt waren Drehscheibe der Deportationen österreichischer Juden, sind aber im kollektiven Gedächtnis bis heute weitgehend unbekannt. Abgesehen von Journalbüchern, Postkarten des jüdischen Jugendgruppenleiters Martin Vogel und Fotografien des SS-Manns Josef Weiszl sind nur wenige Dokumente darüber erhalten. Die Akademie der Wissenschaften hat deshalb in einem Projekt mit den letzten Zeitzeugen gesprochen, um Hintergründe und Erinnerungen an diese Einrichtungen zu dokumentieren. Die dazugehörige Ausstellung ist bis 30. Juni 2017 in der Krypta des Heldendenkmals zu sehen.