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Vom Appetit zum Geschmack

Von Eva Stanzl

Wissen
Nicht nur exotische Delikatessen sind ein angelernter Geschmack.
© corbis/Viviane Moos

Dem Allesfresser Mensch ist nicht vorgegeben, was er essen soll. Er muss es lernen, sagten Experten bei einer Tagung in Wien.


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Wien. Am Anfang sah er hässlich aus: eine glibbrig-runzelige Haut in einem runden Holzdöschen. Als wir dann mit dem Messer hineinstachen, rann das Innere heraus. Wir brauchten einen Löffel, um die Portionen auf die Teller zu transportieren. Der erste Bissen des Epoisses roch durchdringend - und schmeckte nach Metall. "Erstaunlich, dass die Franzosen diesen Käse als Delikatesse empfinden", fanden wir. Doch nach dem zweiten, dritten, vierten Bissen, auf frisches Baguette gestrichen und mit etwas Rotwein hinuntergespült, konnten wir nicht mehr aufhören. Der Epoisses de Bourgogne, einer der deftigsten Kuhmilchkäsen mit gewaschener Rinde, entpuppte sich als Gaumenfreude. Und blieb eine schöne Erinnerung an ein südfranzösisches Mittagessen im Dezember unter einem blühenden Mimosenbaum.

Nicht nur exotische Delikatessen sind erworbener Geschmack. Auch der Genuss von Wienerschnitzel, Sauerkraut, Wurst, Käse, Gemüse, Kaffee und Kuchen will erlernt sein. Essen ist lebenswichtig, doch dem Menschen werden kaum Instinkte in die Wiege gelegt, welche Nahrung er zu sich nehmen soll. Einzig der Schluckreflex beginnt im Mutterleib, wenn der Embryo sich am Fruchtwasser labt. Neugeborene finden zudem im Handumdrehen die Brust und trinken süße Muttermilch, wodurch sich eine Präferenz für Süßes ergibt. Jedwedes Ernährungsverhalten darüber hinaus entsteht erst nach und nach. Dem Allesfresser Mensch ist nicht biologisch vorgegeben, was er essen soll.

Essen beruht auf Erfahrung

"Im Lauf des Lebens erlernen wir, welche Speisen wir wann, wie und in welcher Abfolge zu uns nehmen. Dabei spielt Kultur - also der Verzehr von Mahlzeiten bestimmter Geschmacksrichtungen mit Werkzeugen - ebenso eine Rolle wie Genuss, Gesundheitswert und die Zeit, in der man sich dem Essen widmet", sagt Christine Brombach, Leiterin der Fachstelle Ernährung an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Die Soziologin referierte jüngst bei einem Symposion des Forum Ernährung Heute in Wien. Der Privatverein zur Förderung von Ernährungsinformation thematisierte bei der Tagung mit dem Titel "Demografische Revolution: Reifeprüfung auf dem Teller" das Nahrungsverhalten über 60-Jähriger. Wie sich zeigt, ist dieses ein Lebenswerk.

"Ein 35-jähriger Mitteleuropäer hat bereits an die 40.000 Mahlzeiten mit Messer und Gabel verspeist", erklärte Brombach. Ein 80-Jähriger in unseren Breitengraden blickt auf die Einnahme von 50 Tonnen Lebensmittel zurück. Welcher Art sie sind, ist ein Resultat von Jahren der Übung. "Ab der Kindheit lernt man einen Verhaltenskodex, was gegessen wird, welche Gespräche dabei geführt werden und welche Symbolik das Besteck hat", sagte die Forscherin: "Geschmack benötigt Wiederholungen. So gesehen beruht Essen auf Erfahrung."

Kinder, die liebevoll-geduldig mit dem Löffel gefüttert werden, begreifen, dass Nahrung guttut. Essen zu teilen schafft Gemeinsamkeit und diese wiederum schafft Identität: Ein Gericht, das uns an schöne Stunden erinnert oder an die liebevolle Art der Zubereitung durch die Großmutter, essen wir tendenziell unser ganzes Leben lang lieber als andere Speisen. Auch deshalb fällt es vielen Menschen schwer, ihre Ernährung umzustellen. Denn wer als Kind den Marillenkuchen seiner Oma so gerne hatte, dass er am liebsten das halbe Blech vertilgte, der tut sich selbst im Alter schwer, auf ein zweites Stück zu verzichten. Zumindest schwerer, als Menschen, deren Großmütter schlechte Bäckerinnen waren. "Um das Essverhalten zu verändern, muss man eine ganze Routine an Abläufen neu erlernen", so Brombach. Je älter man ist, desto umfassender ist die Umstellung.

Gerade im Alter gewinnt die richtige Ernährung an Bedeutung. Laut dem Österreichischen Ernährungsbericht 2012 essen Österreicherinnen und Österreicher von 65 bis 80 Jahren mehr Fleisch, Wurst, Öl, Margarine und Butter, aber weniger Obst, Gemüse und Fisch als empfohlen. "Viele Senioren haben zudem kritisch wenig Vitamin D im Blut, das wichtig wäre zur Prävention von Demenz", erklärt Ingrid Kiefer, Sprecherin der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit. Weiters wird zu viel Salz gegessen, was das Schlaganfallrisiko erhöht. Zwei Drittel aller Senioren sind übergewichtig - "Altersdiabetes" Typ 2 ist Volkskrankheit Nummer eins.

Steuern gegen Fettsucht

Im Kampf gegen Übergewicht und Fettsucht forderte die Weltgesundheitsorganisation jüngst länderübergreifend strengere Gesetze: Unter anderem sollen fett-, zucker- und salzreiche Lebensmittel besteuert werden. Nicht alle halten das für eine gute Idee. "Beweise, dass solche Maßnahmen das Ernährungsverhalten in eine gewünschte Richtung beeinflussen, stehen aus", sagt Marlies Gruber, wissenschaftliche Leiterin des Forum Ernährung Heute. Die 2012 in Dänemark eingeführte Fettsteuer wurde sogar mangels Effektivität nach einem Jahr wieder aufgelassen. Einer US-Studie zufolge müsste sich der Preis unerwünschter Lebensmittel nämlich um stolze 20 Prozent erhöhen, damit deren Konsum merkbar sinkt. Da ein Preissprung in dieser Größenordnung aber Niedrigverdiener stark benachteiligen würde, empfiehlt Gruber Anreize in Gegenrichtung: So hätte eine 50-prozentige Preissenkung bei Obst und Gemüse in einer kanadischen Schule zu einer Verkaufssteigerung von 400 Prozent geführt.

Die Gründe für übermäßige Gewichtszunahme sind komplex und verknüpft. Ein Ursache-Wirkungs-Modell des Max-Rubner-Instituts in Deutschland aus 2013 nennt biologische Faktoren wie Gene, Alter, Hormone und Geschlecht als maßgeblich. Zudem führt es vorgeburtliche und frühkindliche Einflüsse (wie Geburtsgewicht oder Säuglingsernährung) an, die sich zusammen mit körperlicher Aktivität und dem Schlafrhythmus auf den Energieverbrauch niederschlagen würden. Auch Lebensmittelangebot, Preis, Schönheitsideale, Religion, Haushaltsstrukturen, Stress, Selbstwahrnehmung und nicht zuletzt Statusdenken, Wohlstandsniveau und Sozialisierung prägen, was wir essen.

Ein Vergleich des Wiener Ernährungsberichts 1994 mit dem Österreichischen Ernährungsbericht 2012 zeigt, dass die Österreicher seit zwei Jahrzehnten täglich nahezu gleich viele Kalorien aufnehmen. Was sich aber dramatisch verändert hat, ist, dass sie heute in einem besorgniserregenden Ausmaß körperlich inaktiv sind. "Würden sich die Menschen mehr bewegen, wäre das Phänomen Adipositas bald keines mehr. Die Niederlande haben eine der niedrigsten Adipositasraten in Europa, weil viele Menschen das Fahrrad als wichtigstes Transportmittel nutzen", betont Wim Saris, Professor für Humanernährung an der Universität Maastricht. Investitionen in eine bewegungsfreundliche Infrastruktur seien somit effektiver als kurzfristig einträgliche Steuern.

Doch noch ein weiterer Aspekt scheint eine Rolle zu spielen. Denn wir sind nicht bloß, was wir essen, sondern wir essen auch, was wir sind: Das individuelle Ernährungsverhalten wird über Generationen geprägt. Und da jede Generation von ihrem politischen, technischen und ökonomischen Umfeld beeinflusst wird, bestimmen Politik, Wirtschaft und technischer Fortschritt den Speiseplan, den jedes Kind von seinen Eltern mitbekommt, mit.

Biografie prägt Essverhalten

Beispiel: In den 1930ern begann die Masttierhaltung, wurden Toastbrot und multifunktionelle Küchenmaschinen erfunden wurde und Vitamin C erstmals künstlich hergestellt. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise kamen aber nur wenige Menschen in den Genuss dieser Errungenschaften. Die breite Masse musste sowohl damals als auch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs hungern. Dass später in den "Wirtschaftswunder"-Jahren ein enormer Nachholbedarf an Südfrüchten, Obst, Fleisch, Milch, Eiern, Butter, Speck, Schmalz und Zucker herrschte, ist nichts als nachvollziehbar. Je größer das Angebot, desto besser, dachte man - die Teller wurden leer gegessen.

"Was wir zu Mittag nicht aufaßen, hat uns unsere Mutter zum Kaffee wieder hingestellt. Es musste aufgegessen werden", berichtet eine Probandin, die vom ZHAW zum Ernährungsverhalten im Lebensverlauf von Frauen über 65 Jahren befragt wurde. Dieser Trend ist irgendwie geblieben. Dem Wirtschaftswunder folgten Entwicklungen wie Nescafe, Dosensuppen, Fertiggerichte - und angesichts steigender Zeitknappheit Fast Food. Heutige Gewichtsprobleme zeigen: Auch McDonald’s wird aufgegessen.

"Auch fehlerhaftes Essverhalten ist erlernt. Menschen, die in einer Mangelsituation aufgewachsen sind, laufen unter Umständen größere Gefahr, übergewichtig zu werden, als die, die nie gezwungen wurden, aufzuessen", sagt Brombach. Auch ein Vergleich der Verfügbarkeit von Süßgetränken mit der Zunahme des Übergewichts würde wohl zeigen: Verhältnisse und Verhalten sind verschränkt. "Die Art der Ernährung ist durch die Biografie geprägt", fasst Brombach zusammen: "Es ist schwer, das Essverhalten einer Person richtig zu deuten, wenn man nicht weiß, wie er geworden ist, was er ist." In diesem Sinn ist Essen immer auch Psychologie.