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Vom Blutbad zum Bürgerfest

Von Michael Ossenkopp

Reflexionen

100 Jahre nach der Völkerschlacht wurde am Ort des Geschehens ein gewaltiges Denkmal eingeweiht, das seither mehreren politischen Systemen dienlich war. Nun soll es als Friedensmahnmal neu definiert werden.


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Unweit des ehemaligen Kommandostandes von Napoleon Bonaparte entstand auf einer Fläche von mehr als vier Hektar ein imposanter Komplex, der von einem 91 Meter hohen "Tempel" überragt wird. Bis heute ist dies das größte Denkmal seiner Art in Europa, noch aus 60 Kilometer Entfernung kann man es erkennen.

Das gigantische Denkmal in Leipzig stand ursprünglich für Tapferkeit und Opferbereitschaft.
© Foto: fotalia

Erste Pläne für ein Monument gab es bereits kurz nach der Schlacht, aber erst zur Einhundertjahrfeier wurde das Völkerschlachtdenkmal am 18. Oktober 1913 enthüllt. Es sollte vor allem den Gedanken der nationalen Einheit transportieren - als das größte Nationaldenkmal der Welt, ein "Ruhmestempel deutscher Art". Kaiser Wilhelm II. nahm die Einweihung zudem als willkommenen Anlass, sein 25-jähriges Regierungsjubiläum zu feiern.

Schon in den Wahrnehmungen der Zeitgenossen von 1813 war das Ereignis so groß, dass es alles bis dahin Geschehene in den Schatten stellte. In der Entscheidungsschlacht zwischen den französischen Truppen Napoleons nebst einiger Rheinbundstaaten wie Bayern und Sachsen gegen die Verbündeten Österreich, Preußen, Russland und Schweden siegte die Koalition der Allliierten. Die nach dem Russlanddebakel geschwächte multinationale Armee Napoleons verlor 70.000, die Verbündeten 50.000 Mann. Mit der verlorenen Schlacht waren Napoleons Machtambitionen auf deutschem Gebiet endgültig gescheitert.

Die Niederlage der Franzosen

Bereits im August und September 1813 hatten die Franzosen bei Dresden herbe Niederlagen einstecken müssen, woraufhin sie sich nach Leipzig zurückzogen. Die Franzosen wurden eingekesselt, trotzdem lieferten sie erbitterte Gefechte, manche Stellungen wurden mehrmals von der einen oder anderen Seite eingenommen.

Am zweiten Tag verliefen die Kämpfe verhältnismäßig ruhig, aber am 18. Oktober, als Bayern und Sachsen zu den Alliierten überliefen, war die Niederlage der Franzosen nicht mehr aufzuhalten. Letztendlich blieb nur der Rückzug. Da der Ring der Verbündeten nicht vollständig geschlossen war, gelang es Napoleon in den Morgenstunden des 19. Oktober, mit einem Teil seiner Truppen zu entkommen.

Im Anschluss bot der österreichische Fürst von Metternich einen Frieden unter milden Umständen an, der Frankreich in seinen alten Landesgrenzen belassen sollte. Doch Napoleon lehnte ab. Im darauffolgenden März nahmen die Alliierten Paris ein, der Kaiser Frankreichs musste abdanken. Sein verzweifelter Versuch, noch einmal zum mächtigsten Herrscher Europas aufzusteigen, scheiterte schließlich 1815 in der historischen Niederlage in Waterloo.

Napoleons Eroberungszüge, die er 1799 begonnen hatte, kurz nachdem er per Staatsstreich in Frankreich an die Macht gelangte, waren aber de facto schon 1813 durch die Völkerschlacht bei Leipzig beendet worden. In den Jahren zuvor war er zum erfolgreichsten Feldherrn seit Alexander dem Großen aufgestiegen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht reichte sein Einflussbereich von Spanien im Westen bis zur russischen Grenze im Osten. Erst als 1812 sein Bündnis mit dem russischen Zaren Alexander I. platzte, war der Niedergang nicht mehr aufzuhalten. 1814 wurden die europäischen Machtverhältnisse auf dem Wiener Kongress neu geordnet. Unter Vorsitz Metternichs einigten sich die Teilnehmer auf ein Kräftegleichgewicht zwischen den Großmächten.

Nach der Völkerschlacht bei Leipzig ließen sich bald der russische Zar, der König von Preußen und der Kronprinz von Schweden in der Stadt als Sieger feiern. Allerdings konnte der allgemeine Jubel die schweren Verluste auf beiden Seiten und das entsetzliche Elend kaum vergessen machen. Auf preußischer Seite galten 16.000 Mann und 600 Offiziere als tot oder verwundet, in der kaiserlichen russischen Armee waren es 22.000 einfache Soldaten und 860 Offiziere, die Österreicher beklagten 14.000 Kämpfer und 400 Offiziere. Bei den Franzosen war die Zahl der Opfer noch größer, neben 38.000 Toten und Verwundeten gerieten rund 15.000 Männer in Gefangenschaft.

Die 34.000-Einwohner-Stadt Leipzig war mit den Massen von Verwundeten völlig überfordert. 54 Lazarette wurden nach der Schlacht vor Ort eingerichtet. Trotzdem lagen die Soldaten oft unversorgt in Kirchen, Gasthäusern, Schulen oder sogar unter freiem Himmel auf dem nackten Boden. Noch tagelang trugen sie die Uniformen, in denen sie verwundet worden waren. Innerhalb weniger Wochen breitete sich eine Typhus-Epidemie aus. Alle Maßnahmen halfen nichts, an der Seuche starb im Winter 1813/14 auch ein Zehntel der Leipziger Bevölkerung.

Neben ruhmseligen Erinnerungen einiger Militaristen gab es auch Schlachtbeschreibungen von Ärzten, Pfarrern, Studenten und Lazaretthelferinnen, die über die weniger heroischen Seiten des Kriegs berichteten. Sie erzählten von dem unvorstellbaren Schrecken, den die fremden Heere über ihre Stadt und die ganze Region gebracht hatten. Selbst Dörfer, die nicht im direkten Schlachtfeld lagen, wurden restlos geplündert, Vorräte aus den Scheunen vertilgt, Häuser abgebrannt.

Die Ideologisierung eines Mahnmals

Der Nachwelt blieben erschütternde Augenzeugenberichte erhalten, wie der des Leipziger Totengräbers Johann Daniel Ahlemann. In seinen Aufzeichnungen schrieb er: "Den schauderhaftesten Anblick gewährte kurz nach der Schlacht der hiesige Johanniskirchhof, wo verwundete und verstümmelte Franzosen zu Tausenden lagen, vom Hunger getrieben, die Leichen in den Schwibbögen, und gefallene Pferde verzehrten und unter schrecklichen Verzuckungen starben."

An der Stelle, wo sich die heftigsten Kämpfe zutrugen und die meisten Soldaten gefallen waren, wurde das Völkerschlachtdenkmal erbaut. Nach Entwürfen des Berliner Architekten Bruno Schmitz, der zuvor auch die Pläne für das Kyffhäuserdenkmal in Thüringen geliefert hatte, erfolgte 1898 im südöstlichen Leipziger Stadtteil Probstheida die Grundsteinlegung. Das Wahrzeichen besteht aus 26.500 Natursteinen und 120.000 Kubikmeter Beton. Es ist 300.000 Tonnen schwer. Die Bildhauerarbeiten wurden von Christian Behrens und Franz Metzner gestaltet. In der Kuppeldecke der Ruhmeshalle sind 324 fast lebensgroße Reiter abgebildet, in der Krypta stehen Totenwächter. Durch Statuen riesiger, steinerner Krieger sollten die Tugenden der Befreiungskriege wie Tapferkeit, Glaubensstärke und Opferbereitschaft symbolisiert werden. Außen an der Basis steht der Erzengel Michael, Schutzpatron der Soldaten. Über der gigantischen Skulptur befindet sich die Inschrift "Gott mit uns".

Vom Fuß des Sockels bis zur Aussichtsplattform sind es 500 Stufen, meist in engen Wendeln. Inzwischen existieren auch zwei Personenaufzüge. Als Bauherr des Denkmals fungierte nicht das Deutsche Reich, sondern Clemens Thieme, ein Leipziger Altlogenmeister. Finanziert wurde das Projekt durch eine speziell eingerichtete Lotterie und Spenden.

Im Laufe der Zeit wurde das Denkmal je nach politischer Ausrichtung immer wieder zu Propagandazwecken missbraucht. Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst als Kultstätte des nationalen Bürgertums geplant, kam es von 1914 bis 1918 zu einer eher "volkserzieherischen Nutzung". Die Schicksals- und Opfergemeinschaft des Krieges sollte beschworen werden. Die Nationalsozialisten interpretierten den Sakralbau "völkisch" im Sinne der nationalen Einheit. In der DDR wurde es zum Symbol der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Jetzt gelangt das Denkmal als "europäisches Friedensmahnmal zur Versöhnung der Völker" zu einer Neuinterpretation.

Im Jahr 2003 begannen erste Sanierungsarbeiten am Denkmal, die eigentlich zur 200-Jahr-Feier der Schlacht beendet sein sollten. Aber die Wiederherstellung der Außenanlagen dauert noch bis 2017, die gesamte Renovierung wird dann 30 Millionen Euro verschlungen haben. Umgerechnet etwa ebenso viel wie die einstigen Baukosten in Höhe von sechs Millionen Goldmark.

Ebenfalls seit Jahren laufen in Leipzig die Vorbereitungen für die Jubiläumsfeierlichkeiten. Dabei will die Stadt das blutige Gemetzel von einst in ein fröhliches Bürgerfest wandeln. Denn zur Säkularfeier 1913 huldigte noch das ganze Reich den Kämpfern der Befreiungskriege, Hunderttausende verherrlichten am Vorabend des Ersten Weltkriegs das "Nationalfest der Teutschen". Damals sangen Männerchöre inbrünstig Ernst Moritz Arndts "Vaterlandslied", vom Gott, der "Eisen wachsen lässt".

Schlachtversionen Online und Live

Noch bis 5. Januar 2014 zeigt das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig die Ausstellung "Helden nach Maß". Seit dem 1. Oktober ist im Schloss- und Torhaus Markkleeberg die Ausstellung "Anno 1813 - Die Österreicher in Leipzig" zu sehen. Und der Künstler Yadegar Asisi lässt im Panometer unter dem Titel "LEIPZIG 1813 - Leipzig in den Wirren der Völkerschlacht" das Schlachtgeschehen in einer 360-Grad-Ansicht wieder aufleben. Außerdem findet vom 17. bis 24. Oktober eine Festwoche mit Gottesdiensten, Musik- und Theaterveranstaltungen statt, 6.000 historisch uniformierte Schauspieler bieten "Gefechtsdarstellungen".

Zum 200-jährigen Jubiläum experimentiert der regionale Mitteldeutsche Rundfunk mit einem außergewöhnlichen, multimedialen Format. Der Sender inszeniert das historische Ereignis vier Tage lang wie ein aktuelles Kriegsgeschehen und berichtet darüber in Form von TV-Sondersendungen. Zuschauer sollen die Schlacht wie ein "Live-Ereignis" mitverfolgen können, Infografiken über Truppenbewegungen und Interviewschaltungen zu Korrespondenten in Moskau und Paris sollen dem Ereignis Authentizität verleihen.

Börsenfrau Anja Kohl wird über die Auswirkungen auf die Exportwirtschaft berichten, Adelsexperte Rolf Seelmann-Eggebert führt in Paris ein "Exklusivinterview" mit Napoleons Gattin. Ein eigenes Nachrichtenportal im Stil von Online-Medien berichtet "hautnah" über die Kämpfe, daneben gibt es Live-Ticker, Blogs und Postings aus sozialen Netzwerken.

Michael Ossenkopp, geboren 1955, war 15 Jahre Redakteur bei Tageszeitungen, arbeitet heute als freier Autor in Berlin; Schwerpunkte: Chronik, Geschichte; vor allem historische Katastrophen.