Zum Hauptinhalt springen

Vom Euro-Streber zum Rebellen

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik

Die Ablehnung des Ukraine-Vertrags war kein Zufall. Ob im Parlament oder auf der Straße, | europakritische Stimmen haben derzeit Hochkonjunktur in den Niederlanden.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Amsterdam. Als Thierry Baudet auf das Podium steigt, erreicht die Stimmung ihren Höhepunkt. Ausgelassen jubeln Mitglieder und Gäste des Forum voor Democratie, das sich selbst als "unabhängiger Think Thank" bezeichnet, als dessen Vorsitzender verkündet, was soeben bekannt wurde: Mehr als die benötigten 30 Prozent der Wahlberechtigten haben sich an der Volksbefragung beteiligt, die das "Forum" mitinitiiert hat. Und eine satte Mehrheit davon hat den EU-Assoziierungs-Vertrag mit der Ukraine abgelehnt. "Die demokratische Revolution hat begonnen", ruft Baudet. "Und die Bar ist eröffnet." Diese Szene am Abend des 6. April ist symptomatisch für die politische Stimmung in den Niederlanden. Wenn Euroskepsis eine Bar ist, dann hat sie in diesen Wochen Happy Hour.

Wobei Skepsis ein zurückhaltendes Wort ist. Kurz vor dem Referendum sorgte das "Burgercomite EU", ebenfalls einer der Initiatoren, für Aufsehen. Dessen Vorsitzender Arjan van Dixhoorn machte in einem Interview keinen Hehl daraus, dass ihn die Ukraine nicht interessiert. "Ein Nexit-Referendum ist bisher nicht möglich. Darum ergreifen wir jede Möglichkeit, die Beziehungen zwischen den Niederlanden und der EU unter Spannung zu setzen."

Spannung gibt es jetzt reichlich in jenem Land, das einst als Streber in der europäischen Klasse galt und wo sich nun die EU-Ablehnung immer weiter ausbreitet. Längst findet man sie nicht mehr nur bei den Brüssel-Kritikern an den Flanken. Wenige Protagonisten haben der Debatte zuletzt so ihren Stempel aufgedrückt wie eben Thierry Baudet, ein junger Intellektueller von Mitte 30. Nach dem gewonnenen Referendum steht er in einem Café in der Nähe des Amsterdamer Rijksmuseums, junge, gut gekleidete Konservative stoßen auf die Zukunft des Nationalstaats an, und Baudet analysiert, dass die "europäische Ideologie" in der Krise sei, weil sie Unterschiede zwischen Ländern und Kulturen einfach negiere und alles vereinheitlichen wolle.

Ein Lob der Grenze

Kein Zufall, dass auch der renommierte Publizist Paul Scheffer in diesen Tagen einen Essay veröffentlicht hat. "Die Freiheit der Grenze" ist der Titel, und darin singt Scheffer ein Loblied auf die Grenzen als Garant von Freiheit und Sicherheit. "Selbsternannte Kosmopoliten", so Scheffer in einem Interview, "tun so, als gebe es keine Grenzen. Das ist eine naive Haltung, die von Hochmut zeugt."

Eine Woche nach dem Referendum nimmt sich das Parlament in Den Haag das Ergebnis vor. Was natürlich an sich schon heikles Terrain ist: Hier die Volksbefragung, dort die etablierte Politik, hier das Misstrauens-Votum gegenüber europäischer Integration und Erweiterung, dort - mit Ausnahme von Freiheitspartei, Sozialisten und Tierschützern - das Bekenntnis zu mehr Europa. Wenige Konflikte haben die niederländische Politik in diesem Jahrhundert so geprägt wie derjenige zwischen dem "Volk" und "Den Haag". Und weil das Verhältnis so belastet ist, hat das Parlament vor dem nicht-bindenden Referendum angekündigt, das Ergebnis jedenfalls zu berücksichtigen.

Auf der Tribüne sitzen an diesem Abend in Den Haag Thierry Baudet und die anderen Initiatoren. Was sie zu sehen bekommen, sind einerseits entschiedene Oppositionelle: der Sozialist Harry Van Bommel, der Populist Geert Wilders und Marianne Thieme, die Ikone der Tierschutz-Partei. Sie fordern die Regierung auf, in Brüssel das Ukraine-Abkommen klar und deutlich und vor allem unverzüglich abzulehnen - so wie die niederländische Bevölkerung das vorgegeben habe. Andererseits sind da die Vertreter der liberal-sozialen Koalition. Auch sie wollen, dass Außenminister Bert Koenders das Thema schnellstmöglichst anspricht - allerdings, um am bestehenden Vertragswerk Veränderungen anzubringen.

Dann kommt Mark Rutte, der Ministerpräsident. Er bittet um mehr Zeit, um die Dinge mit den europäischen Partnern zu klären. Wenn man jetzt einfach nur "Nee" sage, stehe man am Ende mit leeren Händen da. Also brauche es Zeit bis zum Sommer. Was der Opposition freilich verdächtig ist: Denn das Brexit-Referendum hat dann bereits stattgefunden, und die EU hat womöglich ein Problem, das das niederländischen Ausscheren zu einem unbedeutenden Nebenschauplatz degradiert. Hinzu kommt, dass Ruttes Regierung noch bis Ende Juni den EU-Vorsitz inne - und ihr Bild in der europäischen Öffentlichkeit zuletzt schon genug Schaden genommen hat.

"Der Nexit ist unvermeidlich"

Genau wie zuvor die außenpolitischen Sprecher von Liberalen und Sozialdemokraten wird auch Mark Rutte gegrillt. "Hinterzimmerchen", twittert Marianne Thieme von den Tierschützern. "Der Ministerpräsident will Parlament und Wähler zum Narren halten", konstatiert der Sozialist Harry van Bommel, und man wundert sich, wie sehr diese Rhetorik Einzug gehalten hat ins Parlament. Geert Wilders befürchtet, man bekomme "wahrscheinlich einen Betrug wie 2005", als die Niederländer die EU-Verfassung ablehnten, die dann später, abgeändert als Lissabonner Vertrag, doch ratifiziert wurde.

Am Ende wendet sich Wilders direkt an Rutte: "Welchen Teil von Nee verstehen Sie nicht?" Eine Anspielung, zweifellos, an den Slogan "Nee is Nee", der von den Referendum- Initiatoren in diesen Tagen propagiert wird. Der Ton ist gesetzt, und das "Burgercomité EU" twittert als Fazit: "Nee ist nicht nee, denn die EU ist der Boss. Rutte repräsentiert nicht uns, sondern die EU. Nexit ist unvermeidlich, um unsere Demokratie zu retten."

Für den Mann, der sich als "einfach Kees" vorstellt, weil er seinen Nachnamen nicht in der Zeitung sehen möchte, ist Rutte "ein Hofnarr, der in einen Zirkus gehört". Warum? "Wir haben alle dagegen gestimmt, aber es ist alles von vorneherein abgesprochen", ereifert sich der Pensionist. Es ist der Tag nach der Parlamentsdebatte. Kees und drei seiner Bekannten sitzen im Nebenraum der Aal-Räucherei Plat, ganz am Ende der Deich-Promenade von Volendam. Es ist ein Frühlingsnachmittag in dem pittoresken Städtchen am Markermeer, die Touristen kommen in Scharen, kaufen Fisch und machen Fotos von dem Reiher, der vor der Tür auf seine Chance wartet.

"Es wird alles geplündert"

Was Kees und seine Bekannten an der EU stört? Der "freie Zustrom", sagt Kees, der wie seine drei Freunde früher auf Fischerbooten gearbeitet hat. "Rumänen und Ukrainer, die hierher kommen und alles plündern." Dass die Niederlande als "Bravster der Klasse" immer bezahlen müssten, für die Flüchtlinge, die Migranten, während intern die Mittel gekürzt würden. "Die Medikamente meiner Frau bezahlt die Kasse nicht mehr", klagt Kees, "während der Direktor ein dickes Gehalt einstreicht." Allgemein beschweren sich die Männer über das "Taschen-Füllen" von Politikern und Amtsträgern. Was aber hat das mit Europa zu tun? "Es hängt alles zusammen. Wir Volendamer sind sehr kritisch, nicht nur, was Europa angeht."

Die Volendamer sind innerhalb der Niederlande tatsächlich legendär - für die "Aalsound" genannten Schlager, Fischerei und ihre elektorale Vorliebe für rechte Rebellen. Bei der Europawahl 2009 holte die PVV von Wilders hier fast 50 Prozent. Diesmal, so Wim Keizer, der Direktor des kleinen Volendams Museum, hätten 88 Prozent den Ukraine-Vertrag abgelehnt, so viele wie nirgendwo anders. Warum? "Als Protest gegen Europa", sagt sein Kollege Thoom Bond. "Weil immer mehr Länder dazu kommen, mit denen wir nichts zu tun haben. Und weil sie Geld verschwenden, sechs Milliarden an die Türkei, dann Griechenland, jetzt Ukraine, das Geld von hart arbeitenden Menschen in Europa."

Nigel Farage als Idol

Für harte Arbeit sind nicht zuletzt die Volendamer berühmt. Früher als Fischer, heute eher wegen der sprichwörtlichen Kleinbusse der hiesigen selbständigen Handwerker, die täglich für ihre Aufträge ins ganze Land ziehen. Durch das Fenster des Museums sieht man sie nun zurückkehren. Direktor Keizer analysiert unterdessen einen weiteren Schritt seiner politischen Entfremdung: Dass er zuletzt aus strategischen Gründen die VVD wählte, die marktliberale Partei von Premier Rutte, nennt er heute "einen Fehler". Gibt es einen Politiker, den er richtig gut findet? "Nigel Farage!" Das ist der Chef der britischen Ukip, der in den vergangenen Jahren die etablierten Parteien auf der Insel in Sachen Brexit vor sich her getrieben hat.