Mit der EU könnte Großbritanniens Wirtschaft heute wesentlich besser dastehen.
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Am heutigen Freitag jährt sich das historische Brexit-Referendum zum siebenten Mal. Eine knappe Mehrheit der Briten stimmte am 23. Juni 2016 für den EU-Austritt ihres Landes, der Anfang 2020 formell vollzogen wurde. Mit Blick auf Wohlstandsverluste dämmert es vielen Bürgern des Vereinigten Königreiches inzwischen, dass ihr damaliges Votum gegen einen Weiterverbleib in der Europäischen Union wohl falsch war. Selbst der Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage räumte kürzlich ein, dass der EU-Austritt ein Fehlschlag war. "Wir haben wirtschaftlich nicht vom Brexit profitiert, obwohl wir es hätten können", sagte der Ex-Chef der UK Independence Party (Ukip) im BBC-Fernsehen. "Der Brexit war ein Misserfolg." Beobachter in der EU sprechen gar von einem "wirtschaftlichen Desaster" für Großbritannien.
Das Inselreich hatte sich nach dem Austritt jedenfalls viel für seine Wirtschaft versprochen. Trotz eines Handelspakts mit der EU sind die Hürden im Handel jedoch größer geworden. Dazu kommt, dass erhoffte Handelsverträge etwa mit den USA bisher nicht zustande gekommen und in weite Ferne gerückt sind. Zuletzt waren weniger als zwei Drittel des Außenhandelsvolumens durch Post-Brexit-Handelsverträge abgedeckt. Die Möglichkeit, als souveräner Staat eigene Handelsverträge frei von EU-Regularien zu schließen, war schließlich eines der zentralen Versprechen im Rahmen des Brexit.
Aufwand für Exporte in EU für viele Kleinfirmen zu hoch
Da Großbritannien nun nicht mehr Teil des Binnenmarkts und der Zollunion ist, gilt für britische Unternehmen bei Exporten in die EU eine Vielzahl neuer Regeln. Bei Exporten werden ausführliche Zollformalitäten fällig. Vor allem für kleinere Firmen ist der finanzielle und organisatorische Aufwand dabei so hoch, dass viele von ihnen aufgehört haben, in die EU zu exportieren.
Dies dürfte auch der Hauptgrund sein, warum beim bilateralen Handel zwischen Großbritannien und der EU Sand im Getriebe ist. Wie eine Studie des "Economic & Social Research Institute" in Dublin zeigt, fällt das Volumen britischer Exporte in die Union infolge des Brexit um 16 Prozent geringer aus. Die Importe aus der EU wiederum sind um etwa ein Fünftel geringer als ohne Brexit.
Ebenfalls ein nicht unwesentlicher Punkt: Bei den Investitionen in Großbritannien hapert es. Sie sind nach dem Referendum 2016 aufgrund vielfachen Unwägbarkeiten rund um den Brexit massiv ins Stocken geraten. So hält die Londoner Denkfabrik "UK in a Changing Europe" in einer Analyse fest, dass das Volumen der Investitionen ohne den Brexit um ein Viertel höher ausgefallen wäre.
Die Folgen der fehlenden Investitionen werden sich in vielen Bereichen wohl erst über Jahre hinweg bemerkbar machen. Doch in einer Branche schlagen sie schon jetzt voll durch: in der Automobilindustrie. Im vergangenen Jahr rutschte die Zahl der in Großbritannien gefertigten Autos auf den niedrigsten Stand seit 1956 ab. Die Gründe: Schwierigkeiten in den Lieferketten und Werksschließungen. Letztere werden mit dem Brexit in Verbindung gebracht.
Für wachstumshemmende Effekte sorgt aber auch der in Großbritannien besonders akute Mangel an Arbeitskräften. Als Auslöser dafür sehen Experten wie etwa Paul Johnson, Direktor des "Institute for Fiscal Studies" unter anderem den Brexit, der Einwanderung aus der EU erheblich erschwert. In vielen Bereichen - etwa in der Gastronomie oder der Logistik - fehlt es an Arbeitskräften. Früher wurden diese Berufe von EU-Bürgern ausgeübt. Von diesen orientierten sich jedoch viele in der Pandemie und im Zuge des Brexit um, die in vielen Fällen restriktive Visapolitik der britischen Regierung beschleunigte den Prozess noch zusätzlich.
Inflation weiter in lichten Höhen - bereits 13 Zinsschritte
Auch die hohe Inflation, die sich als besonders hartnäckig erweist (im Mai verharrte sie unerwartet bei 8,7 Prozent), ist nicht nur auf die deutlich höheren Energiekosten zurückzuführen, sondern zu einem gewissen Teil auch auf den Brexit. So kommt es nach wie vor immer wieder zu Engpässen etwa bei Lebensmitteln. Diese Engpässe sind aus Sicht vieler Experten das Resultat von Handelshürden, die durch den Brexit bedingt sind. Ist das Angebot knapp, dann treibt das die Preise.
Bei der Bekämpfung der Inflation hat die britische Notenbank am Donnerstag ihr Tempo mit einer überraschend kräftigen Zinserhöhung forciert. Wie sie mitteilte, hob sie den Leitzins um einen halben Prozentpunkt auf 5,0 Prozent, das höchste Niveau seit 2008. Die meisten Ökonomen hatten lediglich mit einen Viertelprozentpunkt gerechnet. Es war bereits die 13. Zinserhöhung in Folge. Gleichzeitig sind die Währungshüter zu einer Fortsetzung ihres geldpolitischen Eilmarschs bereit.
Die Bank of England versucht bereits seit gut eineinhalb Jahren (weit länger als etwa die Europäische Zentralbank), die alarmierend hohe Teuerung einzudämmen - bisher mit mäßigem Erfolg. Die jüngst registrierten 8,7 Prozent Inflation sind der höchste Wert unter den großen westlichen Industrieländern.
IWF sieht Gefahr einer Rezession gebannt
Brexit hin oder her: Unter dem Strich hält sich die britische Wirtschaft dennoch besser als bis vor kurzem noch gedacht. Hatte der IWF, der Internationale Währungsfonds, noch zu Jahresbeginn auf die Gefahr einer Rezession verwiesen, sieht er diese Gefahr mittlerweile weitgehend gebannt. Für heuer rechnet er jetzt mit einem moderaten Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 0,4 Prozent, nachdem er noch im April ein Minus von 0,3 Prozent veranschlagt hat.
Für seine nunmehr deutlich nach oben korrigierte Konjunkturprognose führt der IWF mehrere Gründe an. Dazu zähle, dass sich die Nachfrage trotz hoher Inflation erstaunlich gut entwickle - dies auch wegen steigender Löhne, Staatsausgaben und eines aufgehellten Geschäftsklimas. Nach Angaben der IWF-Chefin Kristalina Georgiewa hat die konservative Regierung in London in den vergangenen Monaten mit "entschiedenen und verantwortungsvollen Schritten" mit zur Besserung der Konjunkturlage beigetragen.
Nach Ansicht des britischen Finanzministers Jeremy Hunt (Conservative Party) zeigt die Einschätzung des IWF, dass die Wirtschaft auf dem richtigen Weg sei. Doch die hohe Inflation und insbesondere die Energiepreise stellten weiterhin eine große Herausforderung dar. (kle)