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Siedlungen waren Ursprung Israels. | Eigenes Geld statt Sozialismus. | TelAviv. (dpa) Der Wandel kommt schleichend. Die Säuglinge werden nicht mehr wenige Wochen nach ihrer Geburt im Kinderhaus abgegeben, sondern wachsen bei den Eltern auf. Im Gemeindesaal speist jeder auf eigene Kosten. Die Jüngeren wollen eigenes Geld verdienen. Josef Saghi spürt die Veränderung, trotzdem glaubt er weiter an die Ursprungsidee.
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"Wir haben alles und sind glücklich", umschreibt der 76-Jährige im Kibbuz Shefaim vor den Toren Tel Avivs, warum er in der Gemeinschaftssiedlung lebt. Auf vergilbten Schwarzweißfotos zeigt er, wie die Siedler nach 1945 mit Kamelen Sand vom Strand holten, um die ersten Häuser zu bauen. Doch 60 Jahre nach der Gründung des Staates Israel steckt Shefaim wie alle Kibbuzim in einer Sinnkrise.
Es gibt zwar heute noch 270 Siedlungen, in denen drei Prozent der Bevölkerung (ca. 127.000 Menschen) leben. Doch der Basissozialismus hat Risse bekommen, Israel ist eine kapitalistische Gesellschaft geworden. Bis 1985 war die Wirtschaft im Land noch sozialistisch beeinflusst. Danach lösten - auch im Kibbuz - Stück für Stück Selbstverwirklichungsideale alte Gemeinschaftsutopien ab.
Mit den ersten Kibbuzim vor hundert Jahren baute man eine jüdische "nationale Heimstatt" auf und legte den Grundstein für den späteren Staat. Der Boden wurde kollektiv beackert, alles gehörte allen, alle waren gleich. Die Bewohner der Kollektivsiedlungen sicherten Territorien und machten unwirtliche Landstriche bewohnbar. Kibbuzim waren und sind der Stolz Israels und "Kibbuzniks" gehören deshalb bis heute zur Elite, gerade im Militär.
"Mehr Privatsphäre"
Noch jetzt ist es in Shefaim üblich, den Lohn abzuliefern. Hier bekommen die 700 Mitglieder 4000 Schekel (800 Euro) Taschengeld. Bei besonderen Vorhaben, etwa einer Reise, entscheidet der Siedlungsrat, ob das genehmigt wird - oder das selbst Ersparte muss dafür aufgebracht werden. Bis vor 25 Jahren wurden hier Kinder nach der Geburt von den Eltern getrennt, Väter und Mütter sahen Söhne und Töchter nur für ein, zwei Stunden am Tag. Doch die Sozialisierung in enger Gemeinschaft hatte seine Schattenseiten: Zahlreiche Bewohner fanden sich in der Stadt nicht zurecht.
"Viele sagen heute: "Wir wollen unser eigenes Geld verdienen"", berichtet der 22-jährige Shiran Maor. Unabhängigkeit werde immer wichtiger. Moar lebt in einem Kibbuz in der Nähe von Shefaim und ist der moderne Gegenpart zu Josef Saghi. Während der Alte, der 1940 aus Hamburg nach Italien flüchtete und 1945 nach Palästina kam, die Gemeinschaft über alles stellt, sagt der junge Kibbuznik: "Wir brauchen mehr Privatsphäre." In seinem Kibbuz ist es so geregelt, dass jeder eigenes Geld verdienen darf, Menschen mit finanziellen Sorgen aber jederzeit aus der Patsche geholfen wird.
Auch wenn man in Shefaim noch viele der von Saghi gepriesenen Ideale hochhält, ist wenig vom ursprünglichen Kibbuz zu sehen. Niemand arbeitet auf Äckern. Durch die moderne Eingangshalle des Hotels geht es in die Bungalowsiedlung, vorbei an akkurat geschnittenem Rasen.
Der Journalist Matan Drori von der Zeitung "Maariv" ist in einem Kibbuz an der Grenze zu Jordanien aufgewachsen. Er sieht heute eine Renaissance der Siedlungen aus ganz praktischen Erwägungen, wodurch die alte Philosophie aber weiter untergraben wird: "In einem Kibbuz wie Shefaim können die Menschen für einen Bruchteil dessen leben, was sie zum Beispiel ein Haushalt in Tel Aviv kostet." Deswegen warten Menschen jahrelang, um aufgenommen zu werden. Zum Arbeiten fahren sie nach Tel Aviv - der Kibbuz als Trabantensiedlung.