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Vom Glück, im 2. Stock zu wohnen

Von Walter Hämmerle

Politik

Sicherheit hat ihren Preis. Natürlich sind Krieg und Gewalt eine furchtbare Sache. Selbstverständlich will sie jeder vermeiden. Dennoch sind sie Realität. Deshalb treffen Staaten Vorkehrungen für die Gewährleistung ihrer Sicherheit zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, würde man meinen. Allerdings nicht in Österreich. Über die Gründe für diese Situation im Besonderen und die Bemühungen um eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Allgemeinen sprach die "Wiener Zeitung" mit Erich Reiter, dem Leiter des Büros für Sicherheitspolitik beim Bundesministerium für Landesverteidigung.


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Wann immer in Österreich größere militärische Beschaffungsaufträge für das Bundesheer zur Entscheidung anstehen, regt sich in Parteien und Medien die Frage: "Z'wos brauch ma des?" Es scheint so, als wäre es uns am liebsten, das Bundesheer würde sich auf die Sicherung der grünen Grenze zu den EU-Beitrittskandidaten und den Katastropheneinsatz kümmern.

Österreichs Verfassung spricht eine klare Sprache

Dabei spricht Österreichs Verfassung in Sachen Sicherheitspolitik eine ungewöhnlich klare Sprache: Im Verfassungsgesetz über die Neutralität heißt es wörtlich: "Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen".

Dem Verfassungstext steht jedoch die gelebte Praxis entgegen. Für den Sicherheitspolitiker Erich Reiter wird in Österreich die Verteidigungspolitik schlicht "nicht ernst genommen". Die Zahlen des Verteidigungsbudgets scheinen Reiter zu belegen: Dieses beträgt mit 1,8 Mrd. Euro lediglich 0,85 Prozent des BIP - damit liegt Österreich fast an letzter Stelle der NATO- und EU-Staaten, gleichauf mit Luxemburg und knapp vor Irland (0,7 Prozent des BIP). Weniger Prozent ihres BIP geben nur noch Länder wie Malta, Myanmar, Antigua und Barbuda, Bahamas, Barbados oder Jamaika aus. Allein die ÖBB kosten uns jährlich doppelt, die Zinsen der Staatsschulden viermal so viel. Wie lässt sich diese geradezu gewohnheitsmäßige finanzielle Geringschätzung des Bundesheeres erklären?

Wer zu spät kommt, den bestraft der Finanzminister

Als das Bundesheer 1955 das Licht der Welt erblickte, war der größte Teil des Budgetkuchens bereits an andere Interessengruppen und Klientels verteilt. So gab sich Österreich schon während der ersten Phase der Großen Koalition, die zwischen 1947 und 1966 regierte, mit einer weitgehend symbolischen Landesverteidigung zufrieden. Daran sollte sich auch nichts ändern, als die ärgsten Mangeljahre für Österreichs Volkswirtschaft überstanden waren. Politiker und Bevölkerung waren sich einig, dass dem Konsum der Vortritt vor Investitionen in die eigene Sicherheit gebührte. Entsprechend meinte schon 1965 der damalige Generaltruppeninspektor Fussenegger in seiner Abschiedsansprache resignierend, es sei illusorisch zu glauben, dass Österreich jemals über ein realistisches Verteidigungsbudget oder gar eine ernsthafte Luftwaffe verfügen werde.

Er sollte recht behalten. Und so hat Österreichs Bundesheer seit Anbeginn an zuviel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Die Philosophie der Abhaltung eines möglichen Angriffs durch eigene militärische Stärke hat sich in Österreich nie durchgesetzt. Weder bei den österreichischen Eliten noch in der Bevölkerung.

Neutralität: Missverständnis auf österreichisch

Die geringe politische und gesellschaftliche Akzeptanz des Bundesheeres - zumindest wenn man die finanzielle Ausstattung und nicht Politikerreden bei feierlichen Angelobungen als Maßstab her nimmt - erklärt Reiter mit zwei historischen Defiziten Österreichs. So verfüge das Land weder über eine nennenswerte Rüstungslobby, die über den Umweg von Arbeitsplätzen und Wirtschaftskraft den Stellenwert des Heeres hebt, noch über eine relevante Zahl an Intellektuellen, die in der Öffentlichkeit ein gutes Wort für das Bundesheer einlegen.

Österreich habe sich, so Reiter, eine bequeme Interpretation der Neutralität zu eigen gemacht, verstehen sich hierzulande doch die vehementesten Anhänger und Verteidiger der immerwährenden Neutralität als überzeugte Pazifisten. Die Schweiz lebt demgegenüber ein anderes Neutralitätsverständnis vor: Hier ist für die Neutralität, wer einer entschlossenen Selbstverteidigung das Wort redet.

Dieses "österreichische Missverständnis" beginne nun auch auf die Vorstellungen einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) überzugreifen. "Arbeitsteilung im militärischen Bereich bedeutet nicht, dass Österreich die Militärmusik und die Gebirgsskilehrer stellt", erklärt Reiter. Vielmehr müsse jedes Land fähig sein, für seine Verteidigung Vorkehrungen zu treffen. Lediglich in strategischen Fragen wie Aufklärung oder Lufttransport werden die kleinen Staaten nicht länger auf sich allein angewiesen sein. Hier könne man sich zwar "freikaufen", doch sicherlich nicht zum Nulltarif.

Doch genau darauf laufe die österreichische Verteidigungspolitik hinaus: "Sie darf alles, nur kein Geld kosten. Die Österreicher sind stolz darauf, Trittbrettfahrer zu sein, man hält diese Strategie hierzulande anscheinend für besonders intelligent", so Reiter. Denn schließlich müsse, wer im zweiten Stock wohnt, ja auch nicht heizen, wie SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer seine Ablehnung des Abfangjäger-Kaufs vor kurzem argumentativ begründete. Das erledigen schon die Mieter unter und über einem.

Europas gemeinsame Streitmacht ist noch fern

Für Reiter ist allein schon die Bereitschaft der EU-Mitgliedsstaaten zu einer Koordination ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein großer Fortschritt, der nicht klein geredet werden dürfe. Denn mehr sei - realistisch betrachtet - nicht möglich. Europa verfüge schlicht nicht über die politischen Eliten, die bereit und fähig sind, die als wichtig und richtig erkannten Interessen entschlossen und notfalls auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Daraus, nicht aus fehlenden gemeinsamen Interessen, resultiert für Reiter die politische Lähmung der EU.

Zwiespältig stellen sich für ihn auch die Folgen der EU-Erweiterung für die ESVP dar: Positiv sei, dass sich durch diesen Schritt die Konfliktmöglichkeiten in Europa weiter verringern. Allerdings werde dadurch auch "das ohnehin Unwahrscheinliche, nämlich eine handlungsfähige EU, noch unwahrscheinlicher".

Die Impotenz Europas in politischen und militärischen Krisensituationen bleibt naturgemäß nicht ohne Folgen für das Verhältnis zu den USA. Tatsächlich zeigt sich in der Folge des von den USA energisch betriebenen "Kriegs gegen den Terrorismus" deutlich, dass die transatlantische Partnerschaft bereits Risse davon getragen hat. Zwar kann Europa formal auf seine Beschlüsse zu einer EU-Eingreiftruppe im November 1999 verweisen, nur werden diese eben bis heute nicht ernsthaft in die Tat umgesetzt. Ein Umstand, der NATO-Generalsekretär Robertson zu der wenig schmeichelhaften Bemerkung veranlasste, Europa bewege sich auf diesem Gebiet "langsam wie eine Gletscherzunge" voran.

USA: "Europäische Verbündete nicht relevant"

So ist den USA für einen Angriff auf den Irak laut einem Berater des US-Verteidigungsministeriums in Europa nur die Unterstützung Großbritanniens wichtig. "Unsere europäischen Verbündeten sind hierfür einfach nicht relevant", sagte Richard Perle am 18. August dem Fernsehsender ABC. Für Reiter führt dies dazu, dass die USA Europa mit neuen Augen zu sehen beginnen: Nämlich als Freunde und Verbündete, jedoch nicht länger als gleichberechtigten Partner.

Auch die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben die Entwicklung hin zur ESVP nicht nachhaltig beschleunigt. Hierzu bedürfte es zusätzlicher finanzieller Ressourcen, die jedoch nach Ansicht Reiters nicht bereitgestellt würden. Auch habe der 11. September lediglich zu einer kurzfristigen Solidarisierung geführt, die bereits jetzt schon wieder zu einem Abrücken vom Verbündeten USA geführt habe.

Beide Themen, der mühsame Weg zur ESVP wie auch die militärischen Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001 werden in zwei Büchern analysiert, für die Reiter als Herausgeber fungiert.

Literaturhinweise:

Europas ferne Streitmacht. Chancen und Schwierigkeiten der Europäischen Union beim Aufbau der ESVP, hrsg. von Erich Reiter, Reinhardt Rummel und Peter Schmidt - Hamburg: Mittler 2002.

Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2002, Band 1, hrsg. von Erich Reiter - Hamburg: Mittler 2002.