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Analyse: Alle EU-Spitzenkandidaten geben ein klares Signal, dass sich die politischen Schwerpunkte Europas ändern müssen.
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Brüssel. Die abschließende Debatte der fünf "Spitzenkandidaten" für die Europa-Wahl, übertragen von 30 TV-Stationen, war vor allem ein Wendepunkt in europäischer Politik. Es ist wohl unmöglich, bei der kommenden Wahl 2019 von dieser Neuerung wieder abzugehen. Und es ist eine eindeutige Bewegung hin zu einer größeren demokratischen Legitimation der EU-Institutionen. Welche Auswirkungen das haben wird, wird sich kommende Woche zeigen. Polit-Beobachter in Brüssel gehen aber davon aus, dass die Wahlbeteiligung, die 2009 bei 43 Prozent lag, steigen wird. Die Berichterstattung in den Medien ist durch diesen Vorgang europaweit exponentiell gestiegen.
Denn es gibt endlich eine europäische Geschichte zu erzählen, auch die Geschichte, dass sich das Parlament eindeutig gegen die bisher übermächtigen Staats- und Regierungschefs positioniert.
Auch diesmal gibt es Befürchtungen, die 28 könnten - unabhängig vom Ausgang der Wahl - eine(n) der Ihren an die Kommissions-Spitze hieven. "Wenn die Regierungschefs das machen, wird 2019 niemand mehr da sein, der wählen geht", warnt Jean-Claude Juncker. Schulz erklärte bei der Debatte, dass im Parlament kein anderer Kandidat gewählt werden würde. Die Folge wäre eine politische Blockade Brüssels, das will allerdings auch der Rat, also das Gremium der Regierungschefs, nicht.
Vielfalt statt Kakofonie
Zum Teil liegt das auch am Europäischen Parlament selbst. Denn wer am 26. Mai die Nase vorne haben wird, könnte nicht nur vom Wahlausgang abhängen. Im Gegensatz etwa zum österreichischen Nationalrat, in dem klar entlang der Parteigrenzen abgestimmt wird, ist dies in Europa nicht der Fall. Die britische Labour-Party hat andere Ansichten als die spanischen Sozialisten. Und die ungarische Fisdesz-Partei von Viktor Orban trifft bei den französischen christdemokratischen Parteikollegen auf wenigstens so harte Kritik wie beim politischen Gegner. "Die Vielfalt Europas zeigt sich auch bei den Parteien", ist in Brüssel zu hören.
Diese Parteien müssen aber im Parlament Fraktionen bilden. Derzeit liefern sich Christdemokraten (die derzeit die stärkste Fraktion bilden) und Sozialdemokraten ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Beiden werden etwa 210 Sitze im 751-Mitglieder-Parlament vorhergesagt. Es könnte also sein, dass die Aufnahme kleinerer Parteien in die jeweilige Fraktion über die Nummer 1 entscheidet. In den aktuellen Umfragen sind bis zu 95 Mandatare keiner der jetzigen Fraktionen zuzuordnen. Paul Welle, Generalsekretär des EU-Parlaments, rechnet damit, dass deren Zahl am Ende aber eher stabil bleiben wird, derzeit sind es 31.
Ob die rechtsextremen und -populistischen Parteien eine neue Fraktion bilden können, ist noch unklar. Für eine solche Fraktion müssen sich 25 Abgeordnete aus sieben EU-Ländern zusammenfinden. Das dürfte zu machen sein, aber ob etwa die "Wahren Finnen" mit der griechischen Faschisten-Partei "Goldene Morgenröte" eine Gemeinsamkeit finden, wird in Brüssel bezweifelt. Einer solchen Gruppe will auch die FPÖ angehören.
Soziale Themen rücken vor
Die aktuellen Umfragen sagen voraus, dass nur Christ- und Sozialdemokraten zusammen eine Mehrheit im künftigen Parlament bilden können. Und die sind immerhin einig, dass die Macht der Regierungschefs eingeschränkt werden muss.
Die künftige Politik der EU-Kommission wird sich auf alle Fälle ändern, egal wie es ausgeht. "Wir müssen wieder die Kardinaltugenden der sozialen Marktwirtschaft in den Vordergrund stellen", sagte Juncker jüngst zur "Wiener Zeitung". Und der ehemalige EU-Landwirtschaftskommissar und ÖVP-Politiker Franz Fischler sagte diese Woche bei einer Veranstaltung, dass "die Zeit neoliberaler Politik vorbei ist". Das würde der Sozialdemokrat Martin Schulz nicht anders ausdrücken. Fischler engagiert sich im Bemühen, Europa bei den Bürgern präsenter werden zu lassen - mit positiven Verknüpfungen. Dazu braucht es ein sozialeres, herzlicheres Europa. "Jenseits des Bruttosozialproduktes" nennt sich dieser Ansatz.
Europa definiert sich kulturell
Bei den österreichischen Parteien ist dies noch nicht angekommen. "Europa im Kopf, Österreich im Herzen" affichiert die SPÖ. "Weil ich Österreich liebe, arbeite ich für ein besseres Europa" ließ die ÖVP ihre nationale Nummer 1, Othmar Karas, sagen. Europa wird dabei mit Vernunft gleichgesetzt.
Für Franz Fischler funktioniert das nicht. "Europa ist nicht geografisch, sondern nur kulturell zu definieren, sagte schon Josef Ratzinger. Das bedeutet, die Herzen der Menschen zu gewinnen."
Ob das dieses Mal schon klappt, wird von Meinungsforschern bezweifelt. In Österreich wird auch ein leichter Rückgang der Wahlbeteiligung für möglich gehalten. Es wird viel davon abhängen, ob die Parteien ihre jeweilige Klientel für Europa motivieren können.
Die fünf Spitzenkandidaten auf europäischer Ebene bemühten sich bei der TV-Debatte jedenfalls. Deren Entwürfe für ein künftiges Europa sehen in jedem Fall eine Stärkung der sozialen Systeme vor. Nur der liberale Kandidat, Verhofstadt, sprach sich vehement für das Freihandelsabkommen mit den USA aus. Und nur der radikale Linke Alexis Tsipras bremst bei Sanktionen gegen Russland wegen der Ukraine-Krise. In den Reihen der Staats- und Regierungschefs ist die Phalanx der Sanktions-Gegner vermutlich größer...
Die Spitzenkandidaten
Erstmals haben sich für die Europawahl am 25. Mai die großen "Partei-Familien" der EU auf Kandidaten geeinigt. Jean-Claude Juncker, der ehemalige Regierungschef Luxemburgs, geht für die christdemokratische EVP (Europäische Volkspartei ins Rennen). Der Deutsche Martin Schulz, derzeit Präsident des Europaparlaments, für die Sozialdemokraten (SPE). Guy Verhofstadt, ein früherer Regierungschef Belgiens, leitet die liberale Fraktion, die unter dem Sammelnamen Alde liberale Parteien vereint (in Österreich diesmal Neos). Ska Keller, aus Deutschland stammende EU-Abgeordnete, ist das europaweite Gesicht der Grünen. Und Alexis Tsipras, der in Griechenland die linke Partei Syriza anführt, geht für eine Gruppe ins Rennen, die auch kommunistische Parteien umfasst. Das Bündnis tritt unter dem Kürzel GUE/NGL an ("Europa anders" in Österreich).
Da es aber kein europäisches Wahlrecht gibt, gelten die jeweiligen nationalen Wahlgesetze. Und die schreiben nationale Kandidaten vor. Die Partei-Familien haben sich also darauf verständigt, dass der jeweilige Sieger vom Europa-Parlament auch als künftiger Präsident der EU-Kommission nominiert wird. Der muss vom Europäischen Rat, dem Gremium der 28 EU-Regierungschefs, bestätigt werden. Die nationalen Kandidaten, die gewählt werden, bilden das künftige Europa-Parlament, das aus 751 Mitgliedern bestehen wird.