Zum Hauptinhalt springen

Vom Hoffnungsträger zur Vorgabe

Von Alexander Dworzak

Politik

Liberale müssen Brüderle vorerst stützen, CDU sucht Koalitionsalternative.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Berlin. "Brüderlein fein, Brüderlein fein, du wirst doch ein Spitzbub sein", singt die Figur der Jugend in Ferdinand Raimunds Zaubermärchen "Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär". Seit über 30 Jahren gibt Rainer Brüderle auf der politischen Bühne Deutschlands den geselligen und nonchalanten Unterhalter. Doch nun bringt er seine Partei öffentlich in Bedrängnis; der designierte Spitzenkandidat der FDP bei der Bundestagswahl mutiert vom Hoffnungsträger zur Vorgabe.

"Sie können ein Dirndl auch ausfüllen", fabulierte der 67-Jährige mit Blick auf das Dekolleté der rund 40 Jahre jüngeren "Stern"-Redakteurin Laura Himmelreich Anfang 2012. Damals stand das traditionelle Dreikönigstreffen der Liberalen auf dem Programm; Politiker und Journalisten unterhielten sich zu später Stunde in der Hotelbar. In der aktuellen Ausgabe machte das Magazin das eindeutig zweideutige Gespräch publik. Die Darstellung der Journalistin bestreitet Brüderle nicht – er schweigt. "Kein Kommentar!", ist seine einzige Reaktion.

In die Bresche springen dafür hochrangige Parteikollegen: "Überall, wo Menschen aufeinandertreffen, wird nun einmal auch geflirtet. Und das darf auch so sein", erklärt FDP-Vorstandsmitglied Katja Suding. Auch Außenminister Guido Westerwelle zeigt vollstes Verständnis für Brüderle: "Zunächst einmal sind wir alle Menschen." Lediglich die EU-Parlamentarierin Silvana Koch-Mehrin distanziert sich vom FDP-Frontmann. Doch sie steht nach einer plagiierten Dissertation und dem verkündeten Abschied aus dem Europaparlament auf dem politischen Abstellgleis.

Beschädigtes Führungsduo

Die liberalen Granden haben keine andere Möglichkeit, als Brüderle den Rücken zu stärken – zumindest kurzfristig. Denn erst vergangene Woche wurde der 67-Jährige zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl im September bestimmt; der intern umstrittene Parteivorsitzende Philipp Rösler bleibt aber FDP-Chef. Somit haben die Liberalen nun ein doppeltes Problem an der Spitze: einen uncharismatischen Parteichef, mit dem kein Wahlkampf zu gewinnen ist, sowie einen Spitzenkandidaten, dessen sexistische Äußerungen für Negativ-Schlagzeilen sorgen.

Selbst wenn sich die FDP durchringen sollte, Brüderle abzusägen, stünde sie vor dem nächsten Problem: der dünnen Personaldecke. Christian Lindner, Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen, gilt zwar als großes politisches Talent und wird von Partei-Ikone Hans-Dietrich Genscher protegiert. Die Führung eines Bundestagswahlkampfes käme für den 34-Jährigen aber wohl zu früh. Also kündigt die FDP an, was alle Parteien mit schwacher Führung unternehmen: ein Team um die Spitze zu bilden. Neben Brüderle und Rösler sollen diesem auch Lindner und Populist Wolfgang Kubicki angehören.

Makulatur könnte aber die Parteistrategie werden, wenn der Druck auf Brüderle nicht sinkt. Laut Umfrage fordern 90 Prozent eine Entschuldigung des Politikers bei Journalistin Himmelreich, knapp die Hälfte der Befragten hält Brüderles Rücktritt für angemessen.

Online-Empörung

Im Internet rollt eine Welle der Empörung: Unter dem Schlagwort "#aufschrei" posten User des Kurznachrichtendienstes Twitter im Sekundentakt, neue Webseiten laden Nutzer zum Erfahrungsaustausch ein und der "Stern" publiziert einen Ratgeber, wie man sich gegen sexuelle Belästigung wehrt. Aber auch an dem Magazin wird Kritik laut: Ein Jahr sind seit dem Vorfall vergangen, jedoch erst unmittelbar nach der Kür Brüderles zum Spitzenkandidaten erschien der Artikel. Die konservative Welt tadelt gleich alle Kritiker: Wenn Brüderles Auftritt "alle weibliche Welt über ’Sexismus‘ wehklagen lässt, frag ich mich, wie wir künftig Verhalten nennen wollen, das wirklich sexistisch ist. Weil es handgreiflich und gewalttätig Frauen ihrer Freiheit und ihrer körperlichen Unversehrtheit beraubt."

Die CDU nimmt die Debatte zum willkommenen Anlass für öffentliche Absetzbewegungen von ihrem Regierungspartner. Einen "Koalitionswahlkampf" werde es nicht geben, sagt nun Verteidigungsminister Thomas de Maiziere, ein enger Vertrauter von Kanzlerin Angela Merkel. Zuvor wurde stets ein schwarz-gelbes Dacapo proklamiert – bis zu den Wahlen in Niedersachsen vor einer Woche, als viele CDU-Wähler aus Furcht, die kriselnde FDP könne es nicht in den Landtag schaffen, ihr Kreuz bei den Liberalen machte – die mit 9,5 Prozent das bestes Ergebnis in der Geschichte im Nordosten Deutschlands einfuhren. Merkel fürchtet sich vor einer Schwächung der CDU durch "Leihstimmen" auch bei der Bundestagswahl. Zudem besitzt Schwarz-Gelb in der Länderkammer keine Mehrheit mehr, könnte also bei einer Fortsetzung im Bund durch die nunmehrige rot-grüne Majorität der Länder gebremst werden. Merkel sucht daher wohl einen neuen Koalitionspartner. "Brüderlein fein, Brüderlein fein. Wirst recht gram mir sein!"