Die Mittelschicht wächst - ebenso die Schere zwischen Arm und Reich. | Einparteiensystem bleibt weiterhin ein politisches Dogma. | Hanoi. Frühmorgens um fünf ergießt sich ein Strom von Obst- und Gemüsehändlerinnen aus dem ländlichen Umland nach Hanoi. Die Waren in zwei an einer Stange befestigten Körbe gepackt, verteilen sie sich über die ganze Stadt und errichten an möglichst viel Gewinn versprechenden Plätzen provisorische Verkaufsstände. Um sie herum dröhnt der Lärm unzähliger Baustellen. Neue Bürokomplexe für internationale Konzerne entstehen neben großen Einkaufszentren und modernen Wohnanlagen für eine stetig wachsende Mittelschicht.
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Während die Kommunistische Partei politisch weiterhin nichts und niemanden neben sich zulässt, erlebt Vietnam einen wirtschaftlichen Aufschwung im Zeitraffer. Bewegten sich noch vor ein paar Jahren abends gerade ein paar Fahrräder durch eine gänzliche unbeleuchtete Stadt, erblickt man heute auf den Straßen Hanois unzählige Mopeds, die sich unentwegt hupend durch einen fast regellosen Verkehr schlängeln, vorbei an bis oben hin vollgeräumten Läden.
Dem 42-jährige Nguyen Quang Vinh, Leiter einer Reisegesellschaft, ist das Hanoi seiner Jugend noch in Erinnerung: "Die Stadt sah grau und öde aus, das Leben war hart und traurig durch seine Monotonie. Alles wurde rationiert, wir bekamen 13 Kilogramm Reis im Monat und fünf Meter Kleidungsstoff im Jahr", erzählt er. "Was man benötigte, verbarg sich hinter langen, zeitraubenden Warteschlangen. Die Leute verglichen sich damals mit fleißigen Hühnern, die in einem Käfig darauf warten, vom Staat gefüttert zu werden", berichtet Nguyen.
"Doi moi" - Erneuerung
1975 endete der Vietnamkrieg mit der Eroberung des von den USA gestützten Südens durch den kommunistischen Norden, doch eine rigide Planwirtschaft sorgte weiterhin für Versorgungsengpässe. Misswirtschaft und eine Hyperinflation ließen Mitte der 80er Jahre die Kommunistische Partei den Weg des "Doi Moi", der Erneuerung, einschlagen. Schrittweise wurden die zentrale Planung zurückgenommen, die Kollektivierung der Landwirtschaft aufgehoben und marktwirtschaftliche Reformen eingeleitet. Heute beträgt das Wirtschaftswachstum an die sechs Prozent und ausländische Direktinvestitionen von rund einer Milliarde US-Dollar fließen jährlich ins Land.
"Unsere Situation hat sich sehr verbessert", meint auch Nguyen. "Nur ist die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden." Vor allem entwickelt sich eine immer größere Kluft zwischen städtischen Ballungsräumen und ländlichen Gebieten. Viele der Bauarbeiter und Straßenhändler Hanois stammen aus Dörfern. Sie teilen sich oft zu viert ein einzelnes Zimmer und schicken nach Hause, was vom niedrigen Lohn übrig bleibt. Auch der 20-jährige Nguyen Duc Thanh kommt aus einem abgelegenen Dorf und muss sich sein Hinterhofzimmer mit drei weiteren Personen teilen. Die hohe Luftfeuchtigkeit hat bei Außentemperaturen an die 40 Grad schon längst die Farbe von der Wand geschält.
Sechs Abende die Woche arbeitet er acht Stunden als Kellner. Aber nebenbei studiert er Wirtschaft und träumt davon, in der Werbebranche Fuß zu fassen. So prekär seine momentane Situation auch sein mag, er besitzt - im Gegensatz zu den schlecht ausgebildeten Landflüchtlingen und Tagelöhnern - immerhin realistische Perspektiven. Ihm wurde durch die wirtschaftlichen Reformen die Möglichkeit einer Verbesserung seiner Lebenslage eröffnet, wie sie den Menschen lange Zeit vorenthalten war.
Es gibt noch viel Armut in Vietnam, doch haben besonders in den Ballungsgebieten wie Hanoi und Saigon schon viele von den Veränderungen des wirtschaftlichen Systems profitiert. Als entscheidend erwies sich hierbei, dass private Haushaltsunternehmen in der Landwirtschaft und im Kleingewerbe zugelassen wurden. "Ein großer Teil der Wirtschaft läuft über Familienbetriebe. Die haben sich mit der Erneuerung erst so richtig positiv entwickelt", meint Wolfgang Karpate vom Deutschen Entwicklungsdienst. In den Gassen Hanois sind kleine Läden dicht aneinander gereiht. Sie ernähren oft eine ganze Familie oder schaffen Zusatzeinkommen.
Parteikader profitieren
Abzuwarten bleibt jedoch, ob diese wirtschaftliche Dynamik auch einschneidende politische Veränderungen nach sich zieht. Zwar werden die Verwaltung und das Rechtssystem transformiert, doch die Medien stehen unter Zensur und Oppositionelle werden immer wieder inhaftiert. Das Einparteiensystem gilt als unumstößliches Dogma.
Historisch legitimiert die Partei ihren Machtanspruch als Garant für die Unabhängigkeit des Landes. Und sie scheint zudem durch den Erfolg der wirtschaftlichen Reformen gestärkt. Grundbedingung für Reformen - auch wenn diese oft mehr pragmatischen denn ideologischen Charakter aufweisen - ist jedoch, dass am Führungsmonopol der Partei nicht gerüttelt wird.
Denn gerade die Parteikader gelten als die größten Profiteure der wirtschaftlichen Reformen in den Nobelvierteln der Stadt schießen Villen aus dem Boden, die ein Patchwork aus europäischer und einheimischer Architektur darstellen. Und erst die kommenden Jahre werden zeigen, ob auch die Ärmsten am Aufschwung teilhaben können.